«When those who have the power to name and socially construct reality choose not to see or hear you, whether you are dark-skinned, old, disabled, female, or speak with a different accent or dialect than theirs, when someone with the authority of a teacher, say, describes the world and you are not in it, there is a moment of psychic disequilibrium, as you looked into a mirror and saw nothing.» 

Adrienne Rich zit. n. Maher, Frances A./Mary Kay Thompson Tetreault (1994): The Feminist Classroom. New York, 201. 


Durch das Aufbrechen und Verunsichern heteronormativer Ordnungen ermöglichen sie Lernprozesse, die den Blick hin zur Möglichkeit der Anerkennung unterschiedlicher Lebensentwürfe weiten. Je nach gesellschaftlichem Kontext kann jedoch auch das Gegenteil eintreten: Wenn queere Lebensweisen an bestimmten Orten sichtbar werden, kann dies zu stärkerer Repression führen, als wenn sie unsichtbar blieben.
 
Pfützner, Robert (2017):Unterwerfung – Aneignung – Verfügung. Zur pädagogischen Bedeutung queerer Räume. In: Kenklies/Waldmann (Hg.): Queer Pädagogik. Annäherungen an ein Forschungsfeld. Bad Heilbrunn, 109.



«[...] die Schule als Institution, mein Gott ist das Ding veraltet, und wenn du mal Veränderung bringen möchtest, dann stehen alle auf die Bremse.»

Interview Darian Baran vom 14.05.2024. 

«[...] wir haben eigentlich sogar eine non-binäre Person bei uns im Klassenverband, [...] unser Fachdidaktiker spricht sie immer mit Frau XY an und das möchte sie eigentlich nicht, aber sie hat dies jetzt auch nicht wirklich kundgetan, also es wird darüber geredet, aber die Praxis, wie man sie eigentlich im politischen Kontext hätte, die ist gar nicht vorgedrungen im Schulkontext.» 

Interview Jona Loki vom 09.05.2024.


«Und dass dann dort eben nicht ‹Schüler:in› stehen durfte, sondern ‹Schüler / Schülerin› stehen musste, zum Beispiel, das ist einfach etwas gewesen, weil es ein Dokument gewesen ist, welches einmal noch durch die Chef-Etage durchmusste. Und dort sind sie dann sofort gekommen und haben gesagt: Hey du musst das sofort wieder rausnehmen, geht nicht!» 

Interview Darian Baran vom 14.05.2024. 


«Ja, also ganz eine klare Haltung. Ganz ein klares Statement, [...]. Dass dies wirklich angeschaut wird, wie gehen wir mit Vielfalt um, wie tun wir vielleicht auch, also ich meine schon nur an der PH, es geht nicht nur um die Schule, es geht auch um das alles was wir lernen, wie können wir irgendwie das Thema Vielfalt einbauen. [...] Deshalb glaube ich einfach, dass man wirklich muss, also die Schulen sowieso, die müssen eine ganz klare Haltung haben und sie müssen dieses Thema aufgreifen und sie müssen schauen wie können wir irgendwie Vielfalt in Aufgabenstellungen bringen und zwar subtil und immer wieder.»

 Interview Issa Mare vom 25.04.2024. 




Riccardo Lovecchio Queere Realität(en) im schweizerischen Schulsystem.
Eine queertheoretisch-kulturwissenschaftliche Perspektive


Abstract
Der folgende Artikel ist eine queertheoretisch-kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld ‹Queer Pädagogik›. Bezugnehmend auf theoretische Debatten, fokussiert sich der Beitrag auf die Lebenswelten von queeren Lehrpersonen aus der Deutschschweiz, mit denen ethnographisch geforscht wurde. Erste Ergebnisse lassen vermuten, dass in der Domäne der Schule verhärtete institutionelle Barrieren herrschen, die durch ein aktives Veränderungshandeln der queeren Lehrpersonen in Frage gestellt werden. Diese schaffen durch ihre Präsenz und ihr Handeln wichtige Möglichkeitsräume, die zu einer inklusiveren Bildung beitragen können. Die Notwendigkeit institutioneller Veränderungen für eine queere Bildungssphäre wird dabei von allen Lehrpersonen betont.



Keywords
#Sozialwissenschaften #Queer-Theorie #Pädagogik #Institutionskritik #Zukunft


Zitiervorschlag:

Lovecchio, Riccardo (2024): «Queere Realität(en) im schweizerischen Schulsystem. Eine queertheoretisch-kulturwissenschaftliche Perspektive.» In: Chakkalakal, Silvy/Schmid, Milena/Andrea-Luca Bossard (Hg.): New Publics. Ästhetisch-kollaborative Vernetzungen zwischen Wissenschaften und Öffentlichkeiten. URL: https://new-publics.ch/lovecchio



Queere Perspektiven im Bildungswesen Ende April 2024 wurde in den Schweizer Medien bekannt, dass einem schwulen Primarlehrer in Zürich Pfäffikon von der Schulleitung auf Druck wertkonservativer Eltern gekündigt wurde.[1] Dieser Fall hat in der öffentlichen Debatte hohe Wellen geschlagen und wurde zu einem Politikum bei Bildungsverantwortlichen sowie Ortsparteien von links bis rechts. Für die queere Community ist das ein weiterer Angriff (auf ihre Sichtbarkeit im öffentlichen Leben) in einem gesellschaftlichen Kontext, wo queere Thematiken in Bildungsinstitutionen, auf der Strasse, in den Mainstreammedien und in der parlamentarischen Politik polarisieren. Die Aktualität dieses Falles unterstreicht meines Erachtens die Notwendigkeit queertheoretischer Wissensproduktion – hier spezifisch im Kontext der Institution Schule. In meinem Forschungsvorhaben werde ich mich deshalb mit der Lebensrealität queerer Lehrkräfte befassen. 

Die Institution Schule kann aus einer nicht-heteronormativen Perspektive als eine politische Öffentlichkeit für die Bildung vielfältiger Lebensweisen betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund habe ich qualitative Interviews mit LGBTIQA+-Lehrkräften durchgeführt. Dabei habe ich Wissensbestände, Sinnstrukturen sowie kollektive Orientierungen beziehungsweise soziale Deutungsmuster von queeren Lehrpersonen in Bezug auf ihren Alltag in schulischen Institutionen herausgearbeitet.   



Queere Pädagogik. Ein Umreissen des Forschungsfeldes Als Norm geltende Selbstverständlichkeiten in Bezug auf sexuelle Lebensweisen und Identitäten werden durch Pluralisierungsneigungen zunehmend in Frage gestellt. Diese beruhen einerseits auf gesellschaftlichen Diskussionsprozessen, wobei verschiedenartige und unkonventionelle Lebensformen vermehrt sichtbar und verhandelt werden, andererseits auf einer gestiegenen Bereitschaft, die bereits bestehende Vielfalt stückweise als solche wahrzunehmen und in Erziehung und Bildung darzustellen (Hartmann 2002, 11). Dieses Infragestellen von kulturellen Selbstverständlichkeiten und die Pluralisierung von Lebensformen ist ein grundlegender Impetus des Konzeptes Queer(ness). In Anbetracht der Unabschliessbarkeit der geschlechtlichen und sexuellen Identitätsfragen fordert Jutta Hartmann, Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit, insbesondere auch von der Pädagogik, sich auf die Komplexität dieser lebenslangen Auseinandersetzungs- und Entwicklungsprozesse der Menschen einzustellen (Hartmann 2015, 35). 
Die Domäne der Schule eignet sich hier als eines der öffentlichen Handlungsfelder im Leben eines Menschen und als ein Raum, an dem diese Selbstverständlichkeiten einer kritischen Auseinandersetzung unterworfen werden können. Seit Anfang der 2000er Jahre hat Hartmann hierzu das pädagogische Konzept der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen entwickelt (ebd., 2002). Sie konkretisiert dabei:  

«Eine Pädagogik, die dem Begriff vielfältiger Lebensweisen folgt, reagiert auf die vorherrschende Strukturiertheit der gesellschaftlichen Realität und auf damit einhergehende hierarchische Bewertungen. Sie erkennt die damit verbundene psychische und bildungs-politische Notwendigkeit von Identitäten an.» (ebd., 2002, 271)  
Die Erziehungswissenschaftler:innen Florian Cristobal Klenk (vgl. 2023, 64) und Julia Siemoneit (vgl. 2021, 285) plädieren dafür, dass in Zukunft mehr über LQBTIQA+-Lebensweisen in den Schulen in Erfahrung gebracht werden müsse. Mein Beitrag kann sich der Unterrepräsentation queerer Lehrkräfte in der Forschung nur ansatzweise und regional begrenzt begegnen. Die Erfahrungen von queeren Lehrkräften in Schulen der Deutschschweiz werden untersucht und nach deren herrschenden Bedingungen und Modalitäten im schulischen Alltag befragt. Ziel meines Vorhabens ist das Ausbreiten von und Interessewecken an vielfältigen Lebensweisen zu fördern. 

 

Schule als queerer Handlungs- und Möglichkeitsraum Schule ist auch als materielle Rahmenbedingung pädagogischen Handelns zu verstehen. Ein solches Verständnis des Räumlich-Materiellen weist auf dessen Wechselwirkung mit dem pädagogischen Handeln hin (Pfützner 2017, 87). Den schulischen Raum als einen öffentlichen Raum des «alltäglichen Veränderungshandelns» (Hartmann, 2002, 271-275) zu verstehen, eröffnet aus queer-pädagogischer Haltung die Möglichkeit, diesen als Zukunfts-Ort zu betrachten. Wenn wir so das ‹alltägliche Veränderungshandeln› als das pädagogische Potential zur Handlungsfähigkeit sehen, unterstreicht dies den zukunftsweisenden Charakter des schulischen Raumes. Diese Handlungsfähigkeit erlaubt eine kritische und ambivalente Auseinandersetzung mit sozialen Machtverhältnissen, die sich durch Subjektivierungsprozesse stetig verändert und sich auf die Kunst konzentriert «nicht dermassen regiert zu werden» (Foucault 1992, 12). Mit Philosophin Judith Butler kann man sagen, dass Handlungsfähigkeit der «kritische[n] Umarbeitung der offensichtlich konstitutiven Geschlechtsnormen» (Butler 1995, 15) mittels fortgesetzter repetitiver Prozesse dient. Verstehen wir den schulischen Raum als ein Ort des Zukunft-Machens, lassen sich queere Selbstverständlichkeiten in den Raum transportieren. Bezugnehmend auf José Esteban Muñoz, Professor für Performance Studies, lässt sich die Zukunft als die Domäne von Queerness definieren, die es ermöglicht, über den Sumpf der Gegenwart hinauszusehen und zu fühlen (Muñoz 2019, 1). Ein solch queerer Ort der Zukunft kann als Utopie umschrieben werden, – ein «doing for and toward the future», ein Insistieren auf diese Zukunft und das Ablehnen des heteronormativen Status Quo. Dies verwandelt die Orte des Zukunft-Machens in einen Ort des Lehrens, wo über Möglichkeiten und Gewordenes reflektiert werden kann (Pfützner 2017, 103). So verstandene Orte der Bildung sind queere Räume, die sowohl für die Bildungsprozesse von queeren als auch heteronormativen Menschen relevant sind.


Methodik – ein Umreissen des Vorgehens Beim Konzept der Sichtbarkeit geht es nicht so sehr um die Forderung nach Sichtbarmachung minorisierter Subjektpositionen, sondern vor allem um eine Kritik an den herrschenden Bedingungen und Modi des Sichtbarwerdens. Die Kunsthistorikerin und Kulturwissenschaftlerin Johanna Schaffer argumentiert, dass die verfügbaren oder stereotypisch entwertenden Subjektpositionen eine grundlegende Frage der Repräsentation sind, das heisst die Prozesse und Strukturen des Darstellens und Herstellens von Wirklichkeit (Schaffer 2008, 233-234). Das Konstruieren von Wirklichkeiten kann dabei als Zukunftsmachen verstanden werden. Die Empirischen Kulturwissenschaftlerinnen Beate Binder und Silvy Chakkalakal (2022, 106) machen auf eine Problematik von Zukunft aufmerksam, bei der das Zukunft-Machen nicht nur mit explorativen Möglichkeiten einhergeht, sondern immer auch mit normativen Implikationen, die mit altbewährten Vorstellungen unterlegt sind. Aus einer queeren Perspektive geht es hierbei um heteronormative Reproduktionen zukünftiger Logiken. Helene Hester (2018), Professorin für Medien- und Kommunikationswissenschaften, betont, dass gerade wegen der Wirkmächtigkeit von reproduktiv gedachter Zukünftigkeit alternative queer-feministische Zukünfte imaginiert werden müssen – genau hier setzt diese Untersuchung an. Mein erhobenes Datenmaterial umfasst dabei Tiefeninterviews[2] mit fünf queeren Lehrpersonen aus der Deutschschweiz, die sowohl an öffentlichen Volksschulen als auch an einer privaten Sprachschule und einer Klinikschule unterrichten. Zur Datenauswertung wurde der Ansatz des Kodierens, wie er bei Georg Breidenstein u. a. (2015) erläutert wird, herangezogen. Ein umfangreiches theoretisches Auseinandersetzen mit der relevanten Literatur bildet eine wichtige Voraussetzung für das Verstehen des Untersuchungsfeldes und meines Datenmaterials. 


Reflexionen meines Forschungsprozesses Die Positionierung und Benennung der eigenen Privilegien und Ausschlussmechanismen als forschende Person ist ein wichtiger Bestandteil einer queer-wissenschaftlichen Arbeitsweise (vgl. Förster, 2017, 48). Die hier forschende Person ist weiss[3], weder körperlich noch psychisch beeinträchtigt, cis-männlich sozialisiert, nicht-trans und nicht-heteronormativ. Aus einer intersektionalen Perspektive ist es zudem wichtig zu reflektieren, dass «mehrfach Minorisierte sowohl als Forscher:innen, als auch als Gegenstand der Forschung nach wie vor Ausschlüsse erfahren» (ebd., 47). Dementsprechend muss auch betont werden, wie empirische Untersuchungen zur Herausbildung der vorgestellten Selbstverständlichkeiten beitragen. Es ist klar zu betonen, dass die hier entwickelte Auffassung einer queertheoretischen und kulturwissenschaftlichen Forschung, die sich in ein queer-pädagogisches Forschungsfeld begibt, eine erste Auseinandersetzung des Forschenden mit diesem Forschungsfeld darstellt. Somit ist die intensive Beschäftigung mit den queeren Positionen in der Fachliteratur sowie des Feldes und die dadurch gewonnene Sensibilität für eine queertheoretische Kritik von hoher Bedeutung. Die folgenden Erläuterungen geben nur einen ersten kleinen Einblick in die gewonnenen Daten in der Domäne Schule.  


Alltag in der Institution Schule Die Analyse hat gezeigt, dass hinsichtlich queerer Themenkomplexe einige institutionelle Verhärtungen vorherrschen.

Bei der Auseinandersetzung mit den theoretischen Debatten im Kontext einer Queer Pädagogik zeigt sich, dass Normativität und Ambivalenz als zentrale Herausforderungen in diesem Feld angesehen werden. Hartmann weist unter Bezugnahme auf Susanne Luhmann, Professorin für Frauen- und Geschlechterforschung, darauf hin, dass die Pädagogik herausgefordert ist, sich für die impliziten dynamischen Prozesse der Annahme und Ablehnung gesellschaftlich-kulturell präsenter Geschlechter- und Sexualitätsnormen zu interessieren (Hartmann 2015, 34; Luhmann 2004). Diese kritische Auseinandersetzung soll dabei nicht erst in der Schule mit den einzelnen Lehrpersonen beginnen, sondern vielmehr sämtliche institutionellen Ebenen der Domäne Schule durchdringen. Hartmann führt weiter aus, dass nebst der Schule auch die Hochschulen als Bildungsinstitutionen gefordert sind, eine Kompetenz zu lehren, die nicht nur Wissen über Selbstverständlichkeiten und unterschiedliche Lebensrealitäten vermittelt, sondern auch die Fähigkeit, einen Raum für die Reflexion diesbezüglich zu öffnen (ebd., 37).  

«Ich sehe schon auch in der Ausbildung Leute, die diese Themen nicht unterrichten wollen und deshalb weiss ich, dass ich diese Leute nachher auch im Kollegium haben werde. [...] Also in unserem Jahrgang an der Uni jetzt, gibt es Leute, die Mühe bekunden mit dem. Also es gibt Leute, die weigern sich zum Beispiel zu gendern.» (Interview Jona Loki vom 09.05.2024) 

Wenn in der Lehre von zukünftigen Lehrpersonen bereits normierende Sprach-Mechanismen verhärtet sind, kann dies das queere Zukunfts-Machen beeinträchtigen, indem keine sprachliche Möglichkeitsräume imaginiert werden können. Sprache schafft Wirklichkeit und damit Sichtbarkeit. Jedoch scheinen schulische Prozesse noch starr:  

«Ich habe das Gefühl es wird immer intersektional-freundlicher gestaltet, also auch mehr anerkannt, dass es das gibt, aber die Strukturen tun sich schwer, sich hier anzupassen, gerade eben auch mit Anforderungen an die Sprache und so.» (Interview Eliane Meier vom 19.04.2024) 

Gendergerechte Sprache ist dabei ein wichtiges Instrument für die Repräsentation vielfältiger Lebensweisen. Sprache verhilft zu einer pädagogischen Haltung, die den dominanten Normen kritisch gegenüberstehen und diese dekonstruieren kann, und somit als alltägliches Veränderungshandeln fungiert. Ein solches alltägliches queer-pädagogisches Veränderungshandeln ist bei den interviewten Personen ersichtlich:  

«Also ich mein es ist mega schwierig, also die Kinder merken, dass ich gendere in meiner Sprache. Und sie fragen manchmal nach und sie versuchen auch manchmal selbst so zu schreiben, was ich mega schön finde. Aber wenn ich wie die einzige Person bin unter acht Lehrpersonen und nochmals zehn Sozpäds [Sozialpädagog:innen] dann ist es wie so […] also es ist nicht so, dass ich wegen dem aufhöre, aber mein Impact ist so klein.» (Interview Issa Mare vom 25.04.2024) 

Eine Lehrperson, die keine Pronomen benutzt, zeigt dabei eine Handlungsfähigkeit auf, die ein dekonstruktives Moment hervorbringt:

«Also zum einen ist das Thema mit der non-binären Ansprache, dass es so ein Thema gewesen ist und wie so [...] ja, auf eine Art ist es wie so einen Türöffner für Personen, die sich dafür interessieren. Sie kommen dann so: Ja, wie ist denn das, was ist es genau? Durch diese kommen Fragen und dann kannst du im Kontakt sein.» (Interview Sasha Greffen vom 18.05.2024) 

Trotz dieses Schaffens von Möglichkeitsräumen durch die Sprache der interviewten Lehrpersonen und die damit verbundene Interesseweckung an Vielfalt, gibt es strukturelle Hindernisse, die queere Lehrpersonen erleben, wie etwa fehlende Unterstützung durch die Schulleitung oder starre Regelwerke, die keine gendergerechte Sprache erlauben. Der Lehrperson, die in öffentlichen Schuldokumenten, wie beispielsweise einem Schulbrief an die Eltern, genderbewusste Sprache verwendet, um so eine queer-pädagogische Haltung zu leben, stehen Hürden im Weg:

«Ich [habe] früh auch versucht irgendwie genderbewusste Sprache zu verwenden zum Beispiel, auch in meinen Elternbriefen etc. Und das sind eher solche Sachen gewesen, die ich von oben ganz klar eigentlich den Finger draufbekommen habe, im Sinne von: hey, wir wollen hier nicht wie in Stäfa[4] den riesen Skandal wegen diesem Gendertag, also auch wenn es nur schon um Sternchen gegangen ist in irgendwelchen Bezeichnungen, ist das schon immer sehr kritisch angeschaut worden. [Ich] habe es trotzdem immer wieder gemacht, aber so bei den öffentlichen Sachen. Auch bei den Drucksachen etc. sind sie mir dann schon eingefahren und haben dann schon gesagt im Sinne von: Wir wollen hier kein Skandal. Ich soll das gefälligst unterlassen.» (Interview Darian Baran vom 14.05.2024) 

Hier wird deutlich, dass für eine Pädagogik vielfältiger Lebensweisen und die Schaffung queerer Imaginationsräume in der Schule alle am Bildungsprozess Beteiligten, unabhängig ihrer mikro- oder makrorelevanten Stellung im Schulsystem, ihr eigenes Verstricktsein in die normgebenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse erkennen und sich im Sinne der erarbeiteten Handlungsfähigkeit einem Prozess des selbstreflexiven Umarbeitens unterziehen müssen. Dass es jedoch durchaus positive Unterstützung von Führungskräften gibt, verdeutlicht die folgende Schilderung:  
«Und danach hat mich dann beim Vorstellungsgespräch die Schulleitung gefragt: Hey, wie willst du eigentlich angesprochen werden? Und dass es für ihn kein Problem darstellen würde, Mensch ist Mensch und ich habe seine Rückendeckung, wenn ich lieber ohne Pronomen angesprochen werden würde. Genau und das hat mir natürlich dann diese Sicherheit vermittelt, denn ich habe gefunden: Ui, soll ich das jetzt ansprechen beim Gespräch, weil ich habe gefunden es geht ja jetzt nicht um das, es geht darum, dass ich mit den Kindern basteln kann und so (lacht). [...] Und dann war ich unsicher, aber habe dann proaktiv von der Schulleitung ein Okay bekommen. Und das hat mir geholfen später vor diese Klasse zu stehen und dann hat es sich angefühlt wie ein Outing, obwohl du es eigentlich gar nicht willst […].» (Interview Sasha Greffen vom 18.05.2024) 
Die vorherrschenden Bedingungen im Schulkontext unterliegen einem dynamischen Prozess, wodurch eine Auseinandersetzung mit Normalitätskonstruktionen stattfindet, ob gewollt oder nicht. Aus einer kritischen Perspektive zeigt sich, dass das angesprochene ungewollte Outing der queeren Lehrpersonen ein wiederholendes Phänomen in den Daten ist. Im (ungewollten) Outing zeigt sich neben dem Potential queere Gegenidentitäten zu verbalisieren und somit auch Gegenöffentlichkeiten zu formieren, die Tendenz dichotomisierende Selbstverständlichkeiten zu reproduzieren. 

«[...] ich kann mega fest verstehen, wenn Leute in ihrem Berufsumfeld, egal ob jetzt Lehrpersonen oder etwas anderes, sich nicht outen, weil sie keinen Bock haben, um über das zu reden. Es ist ja dann oft auch ein über uns reden und nicht mit uns.» (Interview Issa Mare vom 25.04.2024) 

«[...] in der Sprachschule ist es so, dort würde ich es, glaube ich, schon sagen, aber dort ist es irgendwie nie so weit gekommen. Aber ich habe vor 4 ½ Jahren angefangen und ich bin selbst noch nicht so sicher gewesen, wie ich damit umgehen möchte (lacht). Jetzt würde ich es vielleicht anders machen und wenn ich dort jetzt anfange im Sommer […] würde ich, glaube ich, schon das offensiver angehen oder, ja, offener kommunizieren, so. Aber, eben, dieser Schritt von Hinstehen und seine Sexualität preisgeben, das ist ja etwas, dass nur Leute machen müssen, die abweichen und dieser Schritt nervt mich irgendwie.» (Interview Jona Loki vom 09.05.2024) 

Hier kristallisiert sich ein ambivalenter Moment der queeren Lehrpersonen. Während Sichtbarkeit notwendig für politische Handlungsfähigkeit ist, bringt sie auch Risiken der Diskriminierung und Exponierung mit sich. Nichtsdestotrotz schimmert in diesem Phänomen auch das Potential zum alltäglichen Veränderungshandeln durch und somit Sichtbarkeit als politisches Mittel:  

«An diesem Ort habe ich wie so gemerkt: Okay, wenn du dich sozusagen outest, aber es sollte ja gar kein Outing sein, aber wie, mir kommt da manchmal einfach der Tisch in Sinn oder so ein bildliches Beispiel. Früher hatte es einfach, also auch gar nicht böse gemeint, aber einfach viele Männer an einem Tisch gehabt und halt wenn es immer mehr verschiedene Personen an diesem Tisch gibt, dann gibt es halt irgendwann einfach auch ein neues Ausfechten für eine neue Hegemonie.» (Interview Sasha Greffen vom 18.05.2024) 

Ein Outing kann aus dieser Perspektive als ein (auch ungewolltes) «Tun – queering – mit politischer Note» beschrieben werden (Förster 2017, 36). Doch damit solch ein queering auch durch heteronormative Lehrpersonen aktiv betrieben werden kann, fehlen die institutionellen Rahmenbedingungen für eine Pädagogik vielfältiger Lebensweisen. Auf die Frage, wie es denn aktuell um die Rahmenbedingungen in der Schule stehe, folgt beispielsweise die Antwort:  

«Ha, die finde ich noch so mässig. Es ist immer so etwas, dass so ein wenig totgeschwiegen wird, weil es wird nirgends festgelegt, so explizit, dass wir das fördern müssen. Klar ist es ein Zusammenleben, welches wir fördern müssen, aber durch das, dass es sich in den letzten Jahren wieder so extrem verändert hat auch, es ist wie die Vorgaben, die wir haben, sind wie noch zu alt oder veraltet, dass sie eigentlich dem, was wir heute im Schulzimmer haben, gar nicht mehr gerecht werden. Und deshalb finde ich es ein wenig schade, weil nicht explizit auch diese Bedingungen irgendwie geschaffen werden. [...] Oder dass es einfach allgemein so gelebt wird im Schulalltag, von den Kindern bis oben zur Schulführung. Also hier fehlt noch viel, finde ich. Dementsprechend finde ich die Rahmen oder Infrastruktur, welche wir bis jetzt haben, sind einfach noch zu wenig.» (Interview Darian Baran vom 14.05.2024) 
Der Sozialisationsforscherin Astrid Albrecht-Heide und der Psychologin Christine Holzkamp (1998, 23-24) zufolge besteht eine der Herausforderungen in der pädagogischen Diskussion darin, sich selbst als Teil der herrschenden Verhältnisse zu reflektieren. Es ist wichtig, sich nicht länger auf der sicheren Seite zu wähnen, wenn Macht- und Herrschaftsverhältnisse diskutiert werden. In diesem Kontext geht es darum, Mechanismen zu begegnen, die uns selbst beeinflussen. Diese Mechanismen zu erkennen kann uns irritieren und zu veränderndem Handeln anregen. Eine pädagogische Praxis, die Vielfalt ernst nimmt, muss diese Barrieren aktiv abbauen und Strukturen schaffen, die alle Lebensweisen unterstützt und fördert. Zentral für die Entwicklung einer Schule, die Vielfalt nicht nur toleriert, sondern aktiv lebt, scheint für viele Akteur:innen das Formulieren von offiziellen, institutionell verankerten Regeln und Pflichten, um damit vor allem Haltung zu zeigen: 

«Ich fände es schön, es wäre eine Pflicht, ich fände es mega schön, es wäre unsere Aufgabe um gendergerecht zu schreiben und reden, aber SOLANGE es kein Papier gibt, wo dies drinsteht, werden das die Leute nicht machen, leider […].» (Interview Issa Mare vom 25.04.2024) 

«Es würde nur schon, wenn irgendwie zum Beispiel mit einem Leitfaden, in welchem ganz klar auch abgesegnet worden ist von oben, eben, wie gehen wir vor, wie begegnen wir dieser Vielfalt, was ist unser Ziel, was möchten wir mit dem Erreichen, auch diese Vorteile irgendwie hinausheben damit man es rechtfertigen kann, sage ich jetzt einmal, gegenüber der Öffentlichkeit. Wieso handeln wir so. Es ist wie nichts Konkretes. Es wird einfach nie festgenagelt und gesagt: Hey schau, das ist unser Auftrag und das machen wir und wir machen das so. Das heisst niemand will sich hier die Finger verbrennen. Und dieser Schritt vorwärtszumachen, also es ist immer noch sehr konservativ in dieser Hinsicht und ich glaube schon, wenn es wirklich mal ganz klare Massnahmen geben würde, […]. Ich glaube das sind so ein wenig Sachen, die ich mega wichtig finden würde.» (Interview Darian Baran vom 14.05.2024) 



Normen hinterfragen – Der Weg zu einer inklusiven Bildung Wie können wir nun den schulischen Raum als einen öffentlichen Ort des alltäglichen Veränderungshandelns begreifen? Sich nicht-heteronormativ verhaltende Lehrpersonen spielen eine relevante Rolle für das Öffnen von queeren Räumen, indem sie durch ihre Haltung unterschiedliche Lebenswirklichkeiten lebbar machen. Solch eine queerende Pädagogik trägt zudem dazu bei, dass Möglichkeitsräume zum Nachdenken geschaffen werden und damit Bildungsmöglichkeiten geschaffen werden. Für eine so verstandene sich öffnende Bildungssphäre ist jedoch mehr erforderlich als Alleingänge von Lehrpersonen. Queere Bildungsarbeit erfordert institutionelle Veränderungen. Aus der ethnographischen Forschung zeigt sich jedoch, dass sich eine kritische Auseinandersetzung mit und eine Veränderung der institutionellen Bedingungen als schwierig gestaltet. Es erfordert Mut und die Fähigkeit, auf institutioneller Ebene kontinuierlich Grenzen zu verschieben und dabei eben Normen herauszufordern, damit eine Pädagogik vielfältiger Lebensweisen durch alltägliches Veränderungshandeln integraler Bestandteil aller Beteiligten im Bildungsprozess wird.  


Endnoten:

[1] Müller, Matthias: Wie Eltern einem schwulen Lehrer das Leben zur Hölle machten. Aufgerufen am 24.06.2024.

[2]  Ein Tiefeninterview ist ein ca. 60-120-minütiges Gespräch über persönliche Erfahrungen und Ansichten der befragten Person. Die Namen der interviewten Personen sind in diesem Beitrag pseudonymisiert.

[3]  ‹Weiss› bezeichnet keine biologische Eigenschaft und keine reelle Hautfarbe, sondern eine politische und soziale Konstruktion. Mit Weiss-Sein ist die dominante und privilegierte Position innerhalb des Machtverhältnisses Rassismus gemeint, die sonst zumeist unausgesprochen und unbenannt bleibt. Aufgerufen am 24.06.2024.

[4]  Stellungnahme der Gemeinde Stäfa. Aufgerufen am 24.06.2024.


Literatur: 
Albrecht-Heide, Astrid/Christine Holzkamp (1998): Lebensformen und Sexualität – Vielfalt quer zu patriarchalen Leitbildern. In: Jutta Hartmann u. a. (Hg.): Lebensformen und Sexualität: herrschaftskritische Analysen und pädagogische Perspektiven. Bielefeld, 20-28.

Binder, Beate/Silvy Chakkalakal (2022): Dangerous Temporalities. Die unerträgliche Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16/1, 103-107. Aufgerufen am 10.09.2024.

Breidenstein, Georg u. a. (2015): Ethnografie: Die Praxis der Feldforschung. 2. Aufl., Konstanz.

Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin.  

Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin.  

Förster, Franziska (2017): «Who am I to feel so free?»–Eine Einführung in den Begriff und das Denken von Queer. In: Kenklies/Waldmann (Hg.): Queer Pädagogik. Annäherungen an ein Forschungsfeld. Bad Heilbrunn, 9-59.

Hartmann, Jutta. (2002): Vielfältige Lebensweisen: Dynamisierungen in der Triade Geschlecht, Sexualität, Lebensform. 1st ed., Wiesbaden. Aufgerufen am 10.09.2024.

Hartmann, Jutta (2015): Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt im Kontext von Schule und Hochschule. In: Huch/Lücke (Hg.): Sexuelle Vielfalt im Handlungsfeld Schule: Konzepte aus Erziehungswissenschaft und Fachdidaktik. Bielefeld, 27-48.

Hester, Helene (2018): zit. in: Binder, Beate/Silvy Chakkalakal (2022): Dangerous Temporalities. Die unerträgliche Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16.1, 106.

Klenk, Florian Cristobal (2023): Post-Heteronormativität und Schule: Soziale Deutungsmuster von Lehrkräften über vielfältige geschlechtliche und sexuelle Lebensweisen. Opladen. Aufgerufen am 10.09.2024.

Luhmann, Susanne (2004): Subjektivität im Spannungsfeld der Affekte. Geschlecht und Sexualität als psychische Disposition. In: Hartmann, Jutta (Hg.): Grenzverwischungen. Vielfältige Lebensweisen im Gender-, Sexualitäts- und Generationendiskurs. Reihe Sozial- und Kulturwissenschaftliches Studientexte, Band 9, Innsbruck, 41-54.  

Maher, Frances A./Mary Kay Thompson Tetreault (1994): The Feminist Classroom. New York.

Muñoz, Jose Esteban u. a. (2019): Cruising Utopia : The Then and There of Queer Futurity. 10. Jubiläumsedition. Aufgerufen am 10.09.2024.

Pfützner, Robert (2017): Unterwerfung – Aneignung – Verfügung. Zur pädagogischen Bedeutung queerer Räume. In: Kenklies/Waldmann (Hg.): Queer Pädagogik. Annäherungen an ein Forschungsfeld. Bad Heilbrunn 87-112.

Schaffer, Johanna (2008): Ambivalenzen der Sichtbarkeit: Zum Verhältnis von Sichtbarkeit und politischer Handlungsfähigkeit. In: Johanna Dorer u. a. (Hg.): Medien - Politik - Geschlecht: feministische Befunde zur politischen Kommunikationsforschung. Wiesbaden, 233-248. Aufgerufen am 10.09.2024.

Siemoneit, Julia K. M. (2021): Schule und Sexualität. Pädagogische Beziehung, Schulalltag und sexualerzieherische Potenziale. Bielefeld.  

Werlen, Benno (2010): Gesellschaftliche Räumlichkeit. Bd. 2. Konstruktion geographischer Wirklichkeiten. Stuttgart.



Abbildungs-und Materialverzeichnis:

Baran, Darian, Interview vom 14.05.2024 in Zürich

Greffen, Sasha Interview vom 18.05.2024 in Zürich  

Loki, Jona, Interview vom 09.05.2024 in Zürich

Mare, Issa Interview vom 25.04.2024 in Zürich

Meier, Eliane, Interview vom 19.04.2024 in Baden



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