«Ich habe mir auch immer gewünscht, dass vielleicht die Autonome Schule auch hier ein Platz finden werde, also einfach ein Ort, wo die Menschen selber verwalten und was zusammen machen.»

Interview Sadou Bah «Autonome Schule Zürich» vom 04.05.2024 




Abb. 1 Nicht nur Schall und Rauch. Kontraste am Maifest!

«[...] wo da no d’Polizei gsi isch, oder eifach Sicherheitsbehörde da uf em Kaserneareal, isch scho ä anderi Stimmig gsi. Und au jetzt isch’s halt no so chli provisorisch so zwüschet dinne [...]»

Interview Elias Gaberthüehl vom 01.05.2024



Abb. 2 Graffiti Kulturkampf im Kasernenareal

«Erste Mai isch öbbis Speziells, ich han’s vorene scho churz gseid: mer isch undere gruppe Lüüt, inere Gmeinschaft, wo mer sich wohlfühlt, wo mer weiss - [...] die sind all ähnlich und wännd ähnlichi Ziel erreiche, wie mer eigentlich selber will – mit em Land und de Gsellschaft.»

Interview Dario vom 01.05.2024 (anonymisiert)



Abb. 3 Krisen des Alltags


«Ja s’erscht mal hani mier gar ned würklich Gedanke gmacht, dass da mal es Gfängnis gsi isch.. Oder dass da Lüt dine gsi sind oder immer no sind. [...] Ganz genau weissi’s immer nonig, aber han nie Gfohr vernoh. [...] Aso ganz jung, woni da ane cho bi, isch’s eigentlich nur um Party gange, denn hani ned gross Gedanke gmacht, was d’Gschicht da rundume isch.»

Interview Sandra vom 01.05.2024 (anonymisiert)




Andrea-Luca Bossard

Umstrittene Kaserne, Umstrittene Zukunft
Eine Reflexion zum Film




AbstractDer ethnografische Film «Umstrittene Kaserne, Umstrittene Zukunft» setzt sich mit dem teils agonistischen teils konsensualen Raum der ‹alten Kaserne› in Zürich auseinander. Hierbei zeige ich auf, wie Hoffnung als treibende Kraft für linke politische Öffentlichkeiten und deren Imagination(en) von Zukunft zu verstehen ist. (Urbane) Öffentlichkeiten formen dabei das Verständnis von Zukunft mit, werden aber auch von der (historischen) Zeitlichkeit des Raumes geformt. Das Verhältnis von Öffentlichkeit und Zukunft muss im Kontext meiner Forschung als relational und prozesshaft verstanden werden.  



Keywords
#Zukunft #Agonismus #Konsens #Stadt #Hoffnung


Zitiervorschlag:

Bossard, Andrea-Luca (2024): «Reflexion zu: Umstrittene Kaserne – Umstrittene Zukunft.» In: Chakkalakal, Silvy/Schmid, Milena/Andrea-Luca Bossard (Hg.): New Publics. Ästhetisch-kollaborative Vernetzungen zwischen Wissenschaften und Öffentlichkeiten. URL: https://new-publics.ch/bossard



Das Zürcher Kasernenareal hat sich mir in den letzten Monaten durch intensive Feldforschung als Spannungsfeld von Raumgestaltung, Politiken, Öffentlichkeit und Zukunft eröffnet. Die Alte Kaserne kenne ich schon lange als öffentlichen Raum, in welchem Kundgebungen, Raves und (un)politische Veranstaltungen wie die Pride, das Maifest oder das Caliente Musikfestival stattfinden. Ich ging mit der These ins Feld, dass Öffentlichkeit in der Kaserne nach einem agonistischen Prinzip, wie es die politische Theoretikerin Chantal Mouffe in ihren Arbeiten skizziert, funktionieren würde: Der politische Raum ist umkämpft, die Akteur:innen darin sind Gegner:innen (Mouffe 2009) – wobei meines Erachtens auch innerhalb der sogenannten politischen Linken ein solcher Kampf stattfindet. Dabei streben die Gegner:innen die Hoheit (Hegemonie) auf dem Streitfeld der Kultur an (Marchart 2018, 76) und können in diesem Spannungsfeld auch spezifische Zukunftsimaginationen formulieren.
Das stadtplanerische Projekt «Kasernenareal Zürich» verdeutlicht dieses Spannungsfeld exemplarisch. Am 17.04.2024 besuchte ich eine Infoveranstaltung zur Zukunft des Kasernenfreiraums. Das Komitee setzt sich im Zusammenhang mit dem Projekt unter anderem für eine grüne Zukunft, für die Zugänglichkeit für alle und dass ‹vieles möglich sei› ein. Neben progressiv-wirkenden Ansätzen zeigte sich mir hier auch, dass das Areal nicht unbedingt mit politischen Anlässen in Verbindung gebracht wurde.[1] Dieses vermeintliche Auslassen des Politischen schien einigen Besucher:innen nicht zu gefallen. Die anschliessende anonyme Feedbackrunde zeigte sich so durchaus als ambivalent: «Grüne Gentrifizierung. Kasernenareal!» sowie «6 Prinzipien, kein einziges behandelt soziale Gerechtigkeit...» waren als links einzuordnende, kritische Kommentare zu verstehen. Dabei liessen sich aber auch kritische Positionen gegenüber Grossveranstaltungen beobachten: «Bis jetzt gibt es zu viele lärmige Grossveranstaltungen, die zudem viel Raum auf dem Areal beanspruchen - – bitte im Veranstaltungskonzept berücksichtigen». Insgesamt liessen sich die Kommentare jedoch nicht konkret politisch verorten. Ich deute sie eher als Bedürfnisse ohne konkrete «Ideologie». Dennoch: Der Zündstoff für eine offene politische Diskussion wäre gegeben gewesen.[2] Im Gegensatz zum progressiven Neoliberalismus des Stadtprojekts, werden im Kasernenareal aber durchaus auch alternative Zukünfte imaginiert. Der Streit um die Zukunft findet dabei beispielsweise durch ästhetische Mittel wie Graffiti, Plakate oder Sticker statt. Bei genauerer Betrachtung erscheinen dabei agonistisch-konfrontative(Mouffe 2002) und konsensuale (Habermas 1990 [1962]) Öffentlichkeit(en) zugleich. Ein agonistisches Verhältnis manifestiert sich aktuell in der hitzigen Debatte um den Krieg in Palästina und Israel. Anti-imperialistische und pro-israelische Graffiti bekämpfen sich über Wochen und Monate hinweg auf den Fassaden und Zäunen des Kasernenareals in Praktiken des Überklebens, Überschreibens und Widersprechens. Dabei werden mit «Free Palestine» und «Smash Hamas» diverseste Zukunftsbegehren für den Konflikt in Gaza, der Westbank und Israel imaginiert und provoziert. «Free» als Slogan für die Freiheit (in Zukunft) lässt sich dabei auch an anderen Stellen beobachten. Auf dem diesjährigen Maifest vom 01.05.-04.05.2024 entdeckte ich gesprayte Slogans wie «Free Kongo» auf der Fassade eines Zeughauses oder «Freiheit für Öcalan» auf einem Flyer einer kurdischen Organisation[3].
Die Zukünfte lassen sich in meiner Forschung verdichtet am Zürcher Maifest beobachten. Theoretisch erschliessen sich diese mir mit Ernst Blochs Verständnis von Hoffnung (siehe Bloch-Auseinandersetzungen aus dem Fach z.B. in «Fragile Zukünfte» von Silvy Chakkalakal 2023). Bei der Hoffnung handelt es sich nämlich um ein aktives Gefühl, das die Veränderung der Gegenwart herbeiführen möchte (Müller-Schöll/Vidal 2017, 11). Bloch versteht darunter den Drang nach einer neuen Welt als Utopie, welche als etwas, das noch nicht da ist, potenziell aber da sein könnte, konzipiert ist. Hoffnung verkörpert dabei das Neue und tendiere zur Zukunft (zit. nach: Levy 1990, 4). Auch der US-Amerikanische Soziologe Erik OlIin Wright arbeitet mit dem Begriff der Utopie und nutzt diesen wie bereits Bloch als Konzept, Zukunft hoffnungsvoll zu denken. Er plädiert dabei für ‹reale Utopien›, die pragmatisch-spekulativ umgesetzt werden können. Konkret nennt er Projekte der Öffentlichkeit wie partizipative Stadtgestaltung, frei zugängliche Enzyklopädien oder bedingungsloses Grundeinkommen (Wright 2010, 1–9). Beide Positionen lassen sich aus einer materialistischen Traditionslinie heraus als widerständig gegenüber Resignation und Zukunftspessimismus im hegemonialen Kapitalismus verstehen – wie es in vergangenen Jahren beispielsweise der britische Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Mark Fisher in Capitalist Realism ausformuliert hat (vgl. Fisher 2022).
In den sechs kürzeren Interviews, die bis auf eines in meinem ethnografischen Film zu hören sind, lässt sich die angesprochene Hoffnung wahrnehmen. Die Besucher:innen, die nicht mit einer politischen Organisation am Maifest unterwegs waren, formulieren in Bezug auf die Zukunft Befürchtungen, dass die stadträumlichen Verhältnisse schlechter werden könnten – konkret in Bezug auf Kommerzialisierung und Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Gleichzeitig wurde aber auch die positive Veränderung betont, dass die Polizei – seit dem Wechsel des Standorts zum Güterbahnhof[4]– weniger Präsenz zeige. Die Hoffnung materialisiert sich auch in den Imaginationen einer grüneren und kulturell belebten zukünftigen Kaserne: Der Ort wäre wichtig für das Zusammenkommen von Menschen. Bei den politischen Organisationen Autonome Schule Zürich und bfs äusserten die jeweiligen Vertreter:innen, dass das Bedürfnis nach politischen, gesellschaftsmachenden und kulturellen Räumen auch in Zukunft besteht. Die von ihnen angesprochenen Wünsche in Bezug auf die Zukunft des Areals waren jeweils als pragmatisch-zeitnah zu deuten. Interessanterweise wurde bei keinem der Interviews ein dogmatisches oder auch fantastisches Zukunftsbild formuliert, was an dem kleinen Datensatz, der Verbindung mit dem Maifest und dem Format ethnografisches Interview liegen könnte.
Da die genannten Interviews das Herzstück meines ethnografischen Filmes darstellen, muss ich an dieser Stelle meine Auswahl und sowie meine Position als kulturwissenschaftlicher Forscher betonen. Der Feldforschungsprozess war vielschichtig, da ich methodisch zwischen Filmen, Interviews, Fotografie und Beobachtungen wechseln musste. Meine Präsenz im Raum als weisser männlicher Forscher der Universität Zürich und die Dynamik des Maifestes haben dazu beigetragen, dass nicht alle Personengruppen gleich im Film repräsentiert werden konnten. Zum Beispiel liessen sich angesprochene (FINTA) Personen und Organisationen leider oftmals nicht auf ein Interview mit mir ein. Eine, der zwei interviewten Frauen, verzichtete auch darauf, dass ihre Stimme für das Projekt verwendet wird. Mein Film zum Maifest muss deshalb als eine mögliche Perspektive unter vielen auf das untersuchte Forschungsfeld verstanden werden.[5]
Von den Interviews abgesehen, war das Maifest selbst durchzogen von Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Einerseits lassen sich Kämpfe um die Gegenwart, aber auch Imaginationen der Zukunft beobachten. Die Kämpfe von Gruppierungen wie beispielsweise queeren und migrantischen Öffentlichkeiten sind einerseits jetzt existenziell wichtig, andererseits gehen diese Kämpfe aber auch Hand in Hand mit Vorstellungen einer alternativen und zukünftigen Gesellschaft. Die Autonome Schule zeigt dabei auf, wie eine Zukunft mit offenen Grenzen und gegenseitigen unentgeltlichen kulturellen (Sprach-)Lernprozessen aussehen könnte.[6] Auch das Feministische Streikkollektiv Zürich war am Maifest präsent (siehe dazu auch «Zukünftiger feministischer (Frei)Raum?» von Kim Aishya Nüesch). Dieses setzt feministische Utopien in Projekten wie beispielsweise dem Feministischen Streikhaus um.[7] Diese beiden öffentlichkeitsmachenden Projekte arbeiten exemplarisch, mit Wright gesprochen, an realen Utopien. 
Gesellschaftliche Zukünfte wurden am Maifest aber auch auf einer Makroebene formuliert – beispielsweise im Wunsch nach Revolutionen oder grösseren gesellschaftlichen Transformationen. Hoffnung erschien dabei ebenfalls als treibende Kraft. Die bfs (Bewegung für den Sozialismus) steht beispielsweise ein für eine Revolution von unten und organisiert sich nicht in den bestehenden institutionell-politischen Strukturen der Schweiz – zum Beispiel als Partei.[8] Die neu gegründete RKP (Revolutionäre Kommunistische Partei), wiederum, hofft zwar auch auf eine Revolution, möchte dies aber mit Hilfe einer Partei erreichen.[9] Beide streben eine Zukunft jenseits des Kapitalismus an, widersprechen sich aber in der Umsetzung und den konkreten Plänen. 
Was öffentlichkeitsmachende Zusammenschlüsse wie die bfs, die Autonome Schule Zürich, das Feministische Streikkollektiv Zürich und die RKP aber verbindet, ist die Betonung verschiedenster Krisen, die ihrer Meinung nach in der Gegenwart zusammenwirken. Dabei zeigt sich neben der Hoffnung oftmals auch die Unsicherheit gegenüber der angestrebten Zukunft, da nicht klar ist, welche neue Zukunft, welches System sich im kulturellen Kampf um kulturelle Hegemonie durchsetzen wird (Ege 2021, 190) – wird es eine Alternative zum ‹globalen Kapitalismus›[10] oder doch ein neuer erstarkender Faschismus[11]?  
Meine Einstiegsthese lässt sich mit meinem Forschungsprojekt nicht final beantworten, da es eine umfassendere Forschung und tiefergehende Interviews benötigen würde. Dennoch lässt sich festhalten, dass einerseits agonistische Dynamiken auf dem Areal und am Fest zu beobachten waren, andererseits die generelle Stimmung des Maifestes eher von einem Konsens der Solidarität geprägt war. Die dazu imaginierten Zukünfte waren teils pragmatisch-konkret teils dogmatisch[12] und kaum greifbar. Manche zeigten Ähnlichkeiten – beispielsweise die Überwindung von gegenwärtigen Strukturen der Unterdrückung, andere widersprachen sich inhaltlich wie bei dem Nahostkonflikt. Insgesamt lässt sich aber festhalten, dass das Prinzip Hoffnung oftmals als zentrale und alternative Öffentlichkeiten formierende Antriebskraft beschrieben werden kann. 



Endnoten:
[1]  Kasernenareal Zürich: GSZ Präsentation. Aufgerufen am 14.06.2024.

[2] Kasernenareal Zürich: Schlussfrage. Aufgerufen am 14.06.2024.

[3] Free Öcalan. Aufgerufen am 28.06.2024

[4] Ersichtlich ist die Transformation des ehemaligen SBB-Geländes im fantastischen Dokumentarfilm Nemesis (2020) von Thomas Imbach. Aufgerufen am 28.06.2024.

[5] Kim Aishya Nüesch hat sich als Teil der Forschungsgruppe «Stadt der Zukunft? Zürcher Öffentlichkeit(en) im Konflikt» wiederum explizit und ausführlich mit FINTA-Positionen und Zukunft auseinandergesetzt.

[6] Was ist die ASZ? Aufgerufen am 14.06.2024.

[7] Feministischer Streik Zürich. Aufgerufen am 28.06.2024.

[8] bfs. Aufgerufen am 14.06.2024.

[9] Manifest der Revolutionären Kommunistischen Internationale. Aufgerufen am 14.06.2024.

[10] Das beste Mittel gegen Rechts. Warum die KPÖ alles ganz anders macht. Aufgerufen am 14.06.2024.

[11] AfD bei der Europawahl. Aufgerufen am 14.06.2024.

[12]  Die RKP zeigte sich an einer Konferenz am Maifest als dogmatisch auf den Leninismus fokussiert und setzte die noch ausstehende Revolution mit der russischen Revolution der Bolschewiki gleich.



Literatur:
Chakkalakal, Silvy (2023): Fragile Zukünfte: Kultur als Spekulatives Archiv. In: Regensburger Verein für Volkskunde e. V. (Hg.): Zeit. Zur Temporalität der Kultur. Münster/New York, 27-44.  

Ege, Moritz (2021): Konjunktur/Konstellation. In: Peter Hinrichs u. a. (Hg.): Theoretische Reflexionen. Perspektiven der Europäischen Ethnologie. Berlin, 177-194.

Fisher, Mark (2022): Capitalist Realism. Is There No Alternative? 2. Aufl., Winchester.

Habermas, Jürgen (1990 [1962]): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der Bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage. Frankfurt/M.

Levy, Ze’ev (1990): Utopia and Reality in the Philosophy of Ernst Bloch. In: Utopian Studies 1/2, 3-12. Aufgerufen am 14.06.2024.

Marchart, Oliver (2018): Cultural Studies. 2. Aktual. Aufl., München.

Mouffe, Chantal (2002): Which Public Sphere for a Democratic Society? In: Theoria: A Journal of Social and Political Theory 99, 55-65. Aufgerufen am 28.06.2024.  

Mouffe, Chantal (2009): Which Public Space for Critical Artistic Practices? Aufgerufen am 14.06.2024.  

Müller-Schöll, Ulrich und Francesca Vidal (2017): Ernst Blochs «neue Philosophie» des «Neuen». Zum Vorwort des Prinzips Hoffnung. In: Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. R. E. Zimmermann (Hg.). Berlin/Boston, 9-34.

Wright, Erik Olin (2010): Envisioning Real Utopias. London/New York.



Abbildungs- und Materialverzeichnis:
Abb. 1 Digitalfotografie: Andrea-Luca Bossard, 2024.

Abb. 2 Digitalfotografie: Andrea-Luca Bossard, 2024.

Abb. 3 Digitalfotografie: Andrea-Luca Bossard, 2024.


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