Abb. 1 Feministische Gestaltlung des Stadtraumes.




Abb. 2 Kampf um die Stadt.




Abb. 3 Because we care!




Abb. 4 Das Parkschild wird zum Träger politischer Anliegen.




Abb. 5 Auf Demos wird für Sichtbarkeit gekämpft.





Abb. 6 Die Sichtbarmachung exkludierender Alltagspraxen.






Abb. 7 Eingangswand des feministischen Streikhaus.




Abb. 8 Das WC als Ort des politischen Ausdrucks.




Abb. 9 Safer Spaces für eine feministische Zukunft.




Abb. 10 Kollektive Identität.




Kim Aishya Nüesch
Zukünftiger feministischer (Frei)Raum?


Abstract
Am 14. Juni, dem Tag des feministischen Streikes, wird der Kampf um eine feministische Zukunft an die Öffentlichkeit getragen. Aber auch an jedem anderen Tag werden Räume gebraucht, die das Imaginieren, Diskutieren und Ausleben von feministischen Zukünften ermöglichen. In dieser Arbeit wird aufgezeigt, wie feministische Zukünfte an öffentlichen, feministischen Räumen wie dem Frauenzentrum Zürich und dem Feministischen Streikhaus Zürich, ästhetisch geäussert, imaginiert und gelebt werden. Der Fokus liegt hier auf der Beleuchtung von feministischer Öffentlichkeit anhand der Ästhetik der Räume, welche durch Bildanalysen, Teilnehmenden Beobachtungen und Situationsgesprächen untersucht wird. 



Keywords
#feministische Öffentlichkeiten #Gegenöffentlichkeiten #Safer Spaces #Kampf #Agonismus


Zitiervorschlag:

Nüesch, Kim (2024): «Zukünftiger feministischer (Frei)Raum?» In: Chakkalakal, Silvy/Schmid, Milena/Andrea-Luca Bossard (Hg.): New Publics. Ästhetisch-kollaborative Vernetzungen zwischen Wissenschaften und Öffentlichkeiten. URL: https://new-publics.ch/nueesch




Feministische ÖffentlichkeitAm 14. Juni 2024 rief das feministische Streikkollektiv Zürich zur Demonstration auf. Gemeinsam wollen Frauen, Lesben, trans, nonbinäre, inter und agender Menschen an diesem Tag für eine feministische Zukunft kämpfen. Der Kampf um feministische Zukünfte wird durch den Streik an die Öffentlichkeit getragen. Was ist feministische Öffentlichkeit dabei eigentlich? Und mich interessiert weiter: Wie hängt Zukunft-Machen mit Öffentlichkeit zusammen?     Die Kommunikationswissenschaftlerin Brigitte Geiger beschreibt feministische Öffentlichkeiten im Plural als Diskurse, welche gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse diskutieren und kritisch analysieren (2002, 80). Feministische Öffentlichkeiten sind essenziell für die Identitätsfindung und die Entwicklung von kollektiver Handlungsfähigkeit, sowie für gesellschaftliche Einflussnahme und emanzipatorische Veränderung (ebd., 80). Der Zugang zur Öffentlichkeit ist zusätzlich fragmentiert (Staeheli u. a. 2009, 640). Diese Fragmentierung kann zum Ausschluss führen, welcher wiederum das Entstehen alternativen Öffentlichkeiten von marginalisierten politischen Gruppen ermöglichen kann (ebd., 654). Das Entstehen von alternativen Öffentlichkeiten setzt wiederum die Annahme voraus, dass es eine Pluralität von Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten gibt (vgl. Burkhart u. a. 2022, 61). Gegenöffentlichkeiten, ein Terminus, den die politische Theoretikerin Nancy Fraser entwickelte, können so auch als «subalternative counterpublics»(1990, 67) bezeichnet werden, die durch Mitglieder von subalternen sozialen Gruppen gebildet werden. Marginalisierte Gruppen bilden dabeiexklusive Sphären, in welchen die Trennschärfe zwischen öffentlich und privat verschwimmt und welche eine sichere Umgebung für die Diskussion und Entwicklung von politischen Ideen und Strategien ermöglichen (Staeheli u. a. 2009, 645).
Diese exklusiven Sphären, auch als Counterspaces (Gegenräume) verstanden, bieten Rückhalt und ein Gefühl der Zugehörigkeit, wodurch ein sicherer Ort geschaffen wird, um in der Öffentlichkeit zu sein (ebd., 645; Ong u. a. 2018, 206-207). Als solche Gegenräume verstehen sich auch das Frauen*zentrum und das feministische Streikhaus in Zürich, die ich in meiner ethnografischen Forschung besucht habe. Bei beiden handelt es sich um autonome, öffentliche, feministische Begegnungsräume. Räume, so schlägt die britische Kulturgeografin Doreen Massey vor, sind Orte, welche durch konkrete soziale Interrelationen entstehen (2009, 9).  Räume wie Massey als relational zu verstehen, bedeutet auch, dass sie stets als heterogen und vielfältig zu begreifen sind (ebd., 9). Aufgrund der Definition von Raum als Produkt von Zwischenbeziehungen befinden sich Räume stets in dynamischer Bewegung (ebd., 9). Räume äussern und materialisieren sich dabei auch ästhetisch. Unter Ästhetik begreife ich hier die sinnliche Wahrnehmung (P. Weiss in Bogerts 2017, 9). In seinem Werk «Die Ästhetik des Widerstands» macht der Schriftsteller, Maler und Filmemacher Peter Weiss darauf aufmerksam, dass Ästhetik auch immer politisch ist (vgl. ebd., 10). Ästhetik ermöglicht beispielsweise das Sichtbarmachen von Gruppen, die sonst unsichtbar bleiben würden (vgl. ebd., 10).
Die von mir untersuchten Räume eröffnen Potenziale für feministische Zukünfte. Unter Zukunftsvorstellungen versteht der Technikforscher Armin Grunwald das Gemisch von Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen (Grundwald 2009, 31). Die Historikerin Helena Bergman mit ihren politikwissenschaftlichen Kolleg:innen fordern Feminist:innen auf sich aktiv und kritisch an der Visionierung der Zukunft zu beteiligen, um emanzipatives Wissen zu fördern (2014, 66). Sie äussern: «Since futures studies is a policy-linked research field affecting our common future, there is a need for feminist engagement in that field.» (ebd., 67)

Inspiriert davon untersucht mein Beitrag im Masterstudienprojekt feministische Räume in Zürich. Ich frage danach, wie Zukünfte in feministischen Räumen wie dem Frauen*zentrum oder dem feministischen Streikhaus ästhetisch geäussert, imaginiert und gelebt werden und wie das Phänomen der Öffentlichkeit damit verbunden ist. Untersucht habe ich dies in ethnografischer Methodik anhand von teilnehmender Beobachtung, Situationsgesprächen und Bildanalysen.[1]Ich habe das Frauen*zentrum sowie das feministische Streikhaus mehrmals besucht, an Veranstaltungen teilgenommen und diese in Form von Feldnotizen schriftlich festgehalten. Zusätzlich habe ich Fotos gemacht, um die Räume visuell und wahrnehmend zu erfassen. Durch meine Anwesenheit habe ich aber auch Einfluss auf das Forschungsfeld ausgeübt, welchen ich anhand von Vor- und Nachbereitungsnotizen sowie im Austausch mit der Seminargruppe reflektiert habe. Denn gerade bei ethnografischen Forschungen ist kollaboratives Forschen und Kritik unabdingbar:

«As field workers, [ethnographers] are in the cave, among the people with whom and about whom they conduct their research. As writers, they are outside the cave, among their colleagues with whom and against whom they lead their reflexion.» (Fassin 2017, 21)

Kritische Ethnografie folgt dem Konzept des französischen Ethnologen Didier Fassin und ist somit auf die soziale Intelligenz unserer Gesprächspartner sowie auf eine Vielzahl relationaler wissenschaftlicher Perspektiven angewiesen (ebd., 26). Im Folgenden werde ich die beiden oben erwähnten Zürcher Räume vorstellen und sie anschliessend genauer auf die Verbundenheit ihrer Ästhetik und Zukünfte untersuchen. Den Abschluss der Arbeit widme ich meinen aus meiner Forschung gewonnen Erkenntnissen und Impressionen.



Frauen*zentrum und feministisches Streikhaus ZürichDas heutige Frauen*zentrum, auch die «frau*m» genannt, befindet sich an der Mattengasse 27, im Kreis 5. Am 8. März 2013 wurde die frau*m durch die Gruppe Babachinchin initiiert.[2] Die feministische Geschichte des Gebäudes reicht jedoch noch viel weiter zurück. Bereits von 1981 bis 2008 befand sich hier das ehemalige Frauenzentrum der autonomen Zürcher Frauenszene, das jedoch aufgrund sporadischer Nutzung aufgegeben wurde.[3] In den Statuten des Vereins Babachinchin wird die frau*m als «Schutzraum» beschrieben, in dem keine Diskriminierung oder Ausschluss aufgrund «der Herkunft, des Geschlechts, des gesellschaftlichen Status, der sexuellen Ausrichtung oder des Alters» geduldet wird. Die Gemeinsamkeit, der sich dort aufhaltenden Personen ist, laut dem Verein, das feministische, sowie queere politische Bewusstsein, das Frauen* aus unterschiedlichen Zeiten verbindet.[4]

Der Zugang zur frau*m ist niederschwellig geregelt. Der Raum steht offen für verschiedene Frauen sowie queere Personen. Zugang zur frau*m erhalten Einzelpersonen oder Gruppen durch eine Anfrage oder durch das Besuchen öffentlicher Veranstaltungen. Wer Zugang zu den Veranstaltungen erhält, entscheiden die Organisierenden selbst. Da es sich um einen selbstverwalteten Raum handelt, sind alle Besucher:innen für das Sorgetragen des Raumes verantwortlich.[5]  Die Miete von etwa 1'500 Franken wird über eine Kollekte gesammelt. Wer keine Kollekte vermag, kann sich anhand von Gegenleistungen wie zum Beispiel einer Sachspende beteiligen.[6]

Auch beim feministischen Streikhaus handelt es sich um einen ähnlich selbstverwalteten Raum. Das Haus, auch unter der Abkürzung «Streiki» bekannt, befindet sich ebenfalls im Zürcher Kreis 5. Durch die Raumbörse Dynamo erhielt das feministische Streikkollektiv 2019 ein neues Zuhause, und zwar in einem zwischengenutzten Gebäude am Shilquai 115.[7] Auf der Startseite wird das Streiki als «einer der wenigen unkommerziellen Freiräume von und für FLINTAQ* (Frauen*, Lesben*, inter*, nonbinäre* und trans*, agender* und gender queere) Personen in Zürich» beschrieben. Offen ist es immer dann, wenn eine Veranstaltung stattfindet oder eine Person mit Schlüssel vor Ort ist. Via Telegram-Kanal können Interessierte sich über aktuelle Veranstaltungen und Infos rund um das Streikhaus informieren. Grundsätzlich ist das Streikhaus für alle Personen offen, jedoch entscheiden die Veranstaltenden über die Raumpolitik einzelner Events.[8] Das feministische Streikhaus wird von verschiedenen Arbeitsgruppen genutzt und organisiert.[9]  Über das Buchungstool können Räume oder das ganze Haus für Veranstaltungen gemietet werden, unter der Voraussetzung, dass vorgegebene Nutzungsregeln eingehalten werden. Wie auch das Frauen*zentrum erwartet das Streikhaus bei dessen Nutzung eine Beteiligung an der Monatsmiete durch Spenden.[10]  Im Gegensatz zur frau*m unterliegt das feministische Streikhaus der Frist der Zwischennutzung im Rahmen des städtischen Raumbörse-Förderprogramms. Der jetzige Standort des Hauses ist bis 2025 befristet, danach soll das Gebäude abgerissen und durch einen Block ersetzt werden.[11]



Ästhetisierung feministischer Zukünfte Wie bereits erwähnt befinden sich die frau*m sowie das feministische Streikhaus im Industriequartier von Zürich. Der Kreis 5 ist zentral gelegen und als urbanes, multikulturelles Trend- und Entwicklungsquartier bekannt.[12]  Der Standort dieser beiden feministischen Räume im zentralen Zürich sowie ihr Engagement bieten die Möglichkeit feministische Zukünfte als Recht auf Stadt einzufordern. Das «Recht auf Stadt» lässt sich auf den französischen Soziologen Henri Lefebvre (1901-1991) zurückführen, der darunter die Forderung versteht, nicht aus dem städtischen Leben exkludiert zu werden (vgl. Mullis 2017, 351). Verbunden ist damit auch der Anspruch auf selbstbestimmte Räume, einer Lesart der auch das Frauen*zentrum und das feministische Streikhaus folgen (vgl. ebd., 351). Seit Mitte der 2000er lebt Lefebvres Parole erneut auf aufgrund der Unzufriedenheiten über heutige Lebensrealitäten in Städten, darunter auch das Schwinden nicht kommerzieller Freiräume sowie rassistischer, sexistischer und homophober Ausgrenzung im öffentlichen Raum (ebd., 351). Die Hoffnung auf Stadt äussert sich auch ästhetisch während meinen Besuchen (Abb. 1). 

«Ich sitze zum ersten Mal im ‹Wohnzimmer› der frau*m. Von meinem Sessel aus hängt mir gegenüber ein grosses Plakat, auf welchem mit roter Farbe ‹Stadt der Frauen› geschrieben ist. Unter dem Wort ‹Stadt› wurde zusätzlich ein A4 Blatt hin geklebt auf welchem ich das Wort ‹Universum› lese.» 
(Feldnotiz vom 04.05.2024)(Abb. 2).

Die Hoffnung, beziehungsweise der Kampf um eine zukünftige Stadt, die Frauen* inkludiert wird hier sichtbar. Dass sich diese feministischen Räume in einem Kampf um Stadt befinden, äusserte auch ein Mitglied der frau*m im Situationsgespräch: «Militanz ist für mich, die frau*m immer wieder behalten zu können» (Situationsgespräch vom 01.06.2024). Die Betonung der Militanz weist auf den anhaltenden Kampf um eine feministische Zukunft in der Stadt hin. Der Kampf um Raum weist auf die agonistische Haltung im feministischen Raum hin. Der Stadtraum, innerhalb dessen sich beide Räume befinden, wird auch visuell und öffentlich sichtbar feministisch markiert:

«Ich bin auf dem Weg in das Streikhaus. Die Streikplakate und Sticker weisen darauf hin, dass ich mich auf dem richtigen Weg befinde. Ich gehe am lila angestrichenen Zaun entlang zum Eingang. Die offenstehende Türe des Streikhaus signalisiert mir, dass es offen ist. Ich trete ein ins feministische Streikhaus Zürich.» (Feldnotiz vom 23.05.2024)

Durch die Nutzung von Streikplakaten und Sticker, aber auch der lila Farbe, welche als Symbolfarbe für die Frauenbewegung steht (Stempinski 2002), wird der Stadtraum feministisch (mit)gestaltet und die Hoffnung auf Stadt betont. Anhand der visuellen Mittel werden meines Erachtens agonistische (umkämpfte) Öffentlichkeit(en) sichtbar, die die politische Theoretikerin Chantal Mouffe als unabdingbar für eine funktionierende Demokratie bezeichnet (2002, 58). Mouffe argumentiert: «This confrontation between adversaries is how I understand the ‹agonistic struggle› which I take to be the very condition of a vibrant democracy» (ebd., 58). 
Die räumliche Gestaltung weist also auf wahrgenommene Ungleichheiten in der Stadt hin. Durch Farbe, Sticker und Plakate wird städtischer Raum feministisch besetzt. Hierbei handelt es sich meines Erachtens um einen hegemonialen Kampf um den öffentlichen Raum. Oliver Marchart versteht unter Hegemonie das «Verhältnis um einen aus heterogenen Elementen artikulierten Kollektivwillen» (2018, 78). Durch Ästhetik – sprich eine Wahrnehmung, die durch bestimmte Gestaltungselemente erzeugt wird – wird versucht feministische Positionen zu erzeugen und Stellungen zu erlangen. Anhand von visuellen Mitteln wie Farbe, Plakaten und Sticker wird öffentlicher Raum temporär und expressiv besetzt (Fahlenbrach 2009, 98) (Abb.  3, 4).
Die beiden feministischen Räume werden aber nicht nur ausserhalb im Stadtraum deklariert, sondern auch innerhalb der eigenen Räumlichkeiten als feministisch gekennzeichnet. In der frau*m sowie im Streiki finden sich aufgeklebte Sticker, Plakate, und selbstgebastelte Demoschilder, wodurch die Räume physisch und symbolisch als politische Aktivisten fungieren, indem sie politische Anliegen durch die räumliche Gestaltung artikulieren. So spielt zum Beispiel das «SICHT-BAR» Schild bei der Bar in der frau*m auf mehr feministische Sichtbarkeit an (Abb. 5). 
Die Forderung nach mehr Sichtbarkeit bedeutet die Forderung nach Anerkennung bisher minorisierten Subjektgruppen, zu denen auch FLINTAQ* Personen gehören, und dessen Ausstattung mit politischen Rechten (Schaffer 2008, 234). Im Darstellen der Marginalisiertheit wird diese jedoch gerade auch aufrechterhalten (ebd. 244; siehe dazu auch die Beiträge «Reflexion zum Podcast: Klangpolitik. Eine feministische Perspektive auf staatliche Kulturförderung.» von Ajla Paratusic und «Reflexion zum Podcast: Awareness-Boom. Zur Prävention von sexualisierter Gewalt an Musikfestivals.» von Julia Merz.) Mehr Sichtbarkeit führt somit nicht unbedingt zu mehr politischer Macht. Ein anderes Beispiel von ästhetischer, politischer (In)Stellungnahme ist die Toilettenbeschriftung in der frau*m (Abb. 6). 
Durch die Sticker an der Toilettentür und dem darunter stehenden Satz «Free the Toilets – Break the Gender Binary» werden Vorstellungen und Politiken von einfacher Geschlechterbinarität kritisiert. Gerade alltägliche Orte und Alltagspraxen wie der Toilettengang werden so als potenziell ausschliessend und politisch sichtbar gemacht.
Das Streikhaus positioniert sich dabei noch expliziter politisch durch die Innengestaltung. Überall lassen sich Plakate von anstehenden oder vergangenen Veranstaltungen finden, die feministische Zukünfte einfordern (Abb. 7). 
Transfeindlichkeit, die Liberation von queeren Personen und das Recht auf gute Bildung, um nur einige Beispiele zu nennen. Auf den Toiletten des Streikhauses äussern sich besonders viele verschiedene Zukunftsimaginäre anhand von Stickern, Graffiti und Schriftzügen. Erneut wird klar, dass man die Wände, Türen und Spiegel des WCs als politischen (Ausdrucks-)Ort begreifen muss. Öffentlichkeit formiert sich gerade auch in solchen eher als abseitig wahrgenommenen Räumen (Abb. 8).
Gerade an diesem Ort, der stark an Intimität und Körperlichkeit gebunden ist, äussern sich hier häufig Forderungen, welche gerade mit Geschlechter und Körper zu tun haben. An den Wänden finden sich Zeichnungen von Geschlechtsteilen sowie Phrasen gegen Rassismus und Sexismus. Ausserdem handelt es sich hier um einen Ort der Verknüpfung und der Bildung von kollektiven Identitäten, was anhand der Sticker verschiedener Gruppen und dessen Kontakt verdeutlicht wird. Die Ästhetik dieser Räume kann aber auch zu politischen Unsicherheiten führen. So wurde während eines Situationsgesprächs erwähnt, dass Räume wie diese auf Personen, die sich noch nicht so lange feministisch einsetzen, einschüchternd wirken können (Situationsgespräch vom 01.06.2024).



Feministische Utopie in Zürich«Hier versuchen wir ein kleines bisschen Utopie im Jetzt zu schaffen», steht auf der Internetseite des feministischen Streikhauses.[13] Queere Utopie ermöglicht uns, die Gegenwart zu kritisieren, indem wir uns vor Augen führen, was sein könnte (Muñoz 2009, 35). So schreibt Muñoz: «[…] We are not yet queer. We may never touch queerness, but we can feel it as the warm illumination of a horizon imbued with potentiality» (ebd., 1). Muñoz’ queeres Utopieverständnis entwickelt ein politisches Verständnis, sich nicht mit einer Gegenwart zufrieden zu geben, sondern ihr Potential für eine bessere zu erkennen und für queere Zukunftsimaginäre zu nutzen (vgl. Muñoz 2009). Das Streiki sowie die frau*m imaginieren aktiv potenzielle, alternative Zukünfte. Durch Awareness-Konzepte und Spielregeln wird versucht, das Entstehen von Safe Spaces zu gewährleisten und das Ausprobieren potenzieller feministischer Zukünfte zu ermöglichen (Abb. 9). 
Safe Spaces können aber durch Konflikte gefährdet werden, weshalb sie eher als ‹Safer Spaces› bezeichnet werden sollten. Durch Awareness-Konzepte wird das Entstehen von Safer Spaces und kollektiven Identitäten erleichtert. Auch meine Kommilitonin Julia Merz äussert in ihrer Untersuchung zu Helvetia Rockt, dass Awareness-Konzepte Aufklärungsarbeiten im öffentlichen Raum leisten und zur Sensibilisierung der Gesellschaft beitragen können. Daran erinnert auch ein Spruch an der Wand des Streikhauses, welcher auf entstehende kollektive Identitäten hinweist, welche sich im Streikhaus bilden, um sich anschliessend im öffentlichen Raum zu zeigen (Abb. 10).
Die Entstehung von solchen Safer Spaces schafft ein Umfeld, in denen Diskussionen und Entwicklung von möglichen politischen Strategien ermöglicht werden. Der Eintritt in solche Räume kann jedoch wie bereits oben erwähnt viel Überwindung kosten, gerade für Personen, die noch nie dort waren und anders politisiert sind. Dies zeigte sich bei meinen teilnehmenden Beobachtungen. Die Räume werden hauptsächlich von Gruppen besucht, die bereits seit längerem Teil dieser Räume sind (Feldnotiz vom 10.06.2024). Im Streikhaus sowie der frau*m wurde geäussert, dass selten Personen zu Besuch kommen, die die Räume nicht schon vorher kannten. Die dort imaginierten Zukünfte sind aber nicht auf die regelmässigen Besucher:innen begrenzt, sondern werden auf die breitere Gesellschaft erweitert. Potenzielle Zukünfte können in diesen Räumen erprobt werden und dann an die Öffentlichkeit herangetragen werden. Die erfreute Reaktion an neuen Gesichtern – und meines zählt sicherlich dazu – weist aber darauf hin, dass diese gerne gesehen werden und sich an der Diskussion von feministischen Zukünften beteiligen dürfen. Anhand von Social Media Posts und Einladungen auf den Internetseiten versuchen die Akteur:innen des Feldes, die Räume, sowie die dort entstehenden Zukünfte, so öffentlich wie möglich zu machen. Öffentlichkeit zeigt sich hier als Potenzial zur Erweiterung feministischen Raumes und dessen Zukunftsimaginären.



Umstrittener Raum – umstrittene Zukunft Das feministische Streikhaus und das Frauen*zentrum schauen jedoch unsicheren Zukünften entgegen. Die autonomen und selbstverwalteten Räume sind nämlich trotz allem abhängig von der Stadt. Beide generieren ihre Miete selbst, wodurch die Zukunft der Räume nur bedingt gesichert ist. Im Falle des Streikhauses liegt sogar eine Mietfrist bevor. Das feministische Streikkollektiv äussert sich am 14. Juni in einem Instagram-Post: 

«Wir stemmen das Haus freiwillig – das ist viel Arbeit. Der Vertrag mit der Stadt Zürich zwingt uns zu noch mehr Selbstausbeutung. Wir müssen Geld generieren, wo keines ist. Denn wir wollen kein Kommerzort sein, sondern ein feministisches Gemeinschaftszentrum.»[14]

Diese Art der Räume – die ihr Recht auf Stadt und Teilhabe einfordern – müssen immer wieder um ihre Existenz und ihre Zukunft kämpfen, womit nicht überraschend auch die feministische Zukunft der Stadt Zürich als umkämpft gedeutet werden kann. Die Zukünfte können dabei je nach Situation kurz- oder langfristig gedeutet werden. So ermöglichen die kurzfristigen Kämpfe um die feministische Zukunft die langfristige, feministische Utopie. Der alltägliche Kampf um die Räume ist somit gekoppelt an den Kampf um Zukunft. Das Ringen um die Zukunft äussert sich für Kulturwissenschaftler:innen in Imaginationen und Bildern. Diese Ausdruckspraktiken begreife ich als visuell-materielle Mitgestaltung von städtischem Raum und verstehe diese als politische Handlungen und als Teil von politischem Aktivismus. 



Endnoten:

[1] Die Namen meiner Forschungspartner:innenwurden im Einverständnis der Beteiligten im Situationsgespräch anonymisiert.

[2] Entstehung des Frauenzentrums. Aufgerufen am 28.06.2024.

[3] Verein Frauenzentrum. Aufgerufen am 14.06.2024.

[4] Entstehung des Frauenzentrums. Aufgerufen am 28.06.2024.

[5] Fraum Spielregel. Aufgerufen am 28.06.2024.

[6] Beteiligung am Fraum. Aufgerufen am 14.06.2024.

[7] SZ Online: Ein Haus für den Frauenstreik. Aufgerufen am 12.03.2024.

[8] Feministisches Streikhaus. Aufgerufen am 13.06.2024.

[9] Organisation Streikhaus. Aufgerufen am 28.06.2024.

[10] Raumbuchung Streikhaus. Aufgerufen am 28.06.2024.

[11] WOZ: Eine feministische Oase. Aufgerufen am 14.06.2024.

[12] Quartierverein Industriequartier. Aufgerufen am 14.06.2024.

[13] Feministisches Streikhaus. Aufgerufen am 13.06.2024.  

[14]Instagram: Feministisches Streikkollektiv. Aufgerufen am 14.06.2024.


Literatur: 


Bergman, Helena u. a. (2014): What about the Future? The troubled Relationship between Futures and Feminism. In: Nordic Journal of Feminist and Gender Research 22, 63-69.

Bogerts, Lisa (2017): Ästhetik als Widerstand – Ambivalenzen von Kunst und Aktivismus*. In: Peripherie 145, 7-28.

Burkart, Günter u. a. (Hg.) (2022): Privat – öffentlich – politisch: Gesellschaftstheorien in feministischer Perspektive. Wiesbaden.

Fahlenbrach, Kathrin (2009): Protest-Räume – Medien-Räume. Zur rituellen Topologie der Strasse als Protest-Raum. In: Sandra Maria Geschke (Hg.): Strasse als kultureller Aktionsraum. Wiesbaden, 98-110.

Fassin, Didier (2017): The endurance of critique. In: Anthropological Theory, 17, 4-29.  

Fraser, Nancy (1990): Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy. In: Social Text 25/26, 56-80.

Geiger, Brigitte (2002): Feministische Öffentlichkeiten. Ansätze, Strukturen und aktuelle Herausforderungen. In: Dorer, Johanna/Brigitte Geiger (Hg.): Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wiesbaden, 80-97.

Grunwald, Armin (2009): Wovon ist die Zukunftsforschung eine  

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Marchart, Oliver (2018): Cultural Studies. 2. Aktual. Aufl., München.

Massey, Doreen. (2005): For Space. London u. a.

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Muñoz, José Esteban. (2019): Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity. 10th Anniv. Ed. New York.

Mullis, Daniel (2017): Henri Lefebvre: Das Recht auf Stadt. In: Frank Eckardt (Hg.): Schlüsselwerke der Stadtforschung. Wiesbaden, 351-366.

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Staeheli, Lynn u. a. (2009): Making publics: immigrants, regimes of publicity and entry to ,the public›. In: Environment and Planning: Society and Space 27, 633-648.

Stempinski, Susanne (2001): Lila – Symbolfarbe der Frauenbewegung. In: Augsburger Volkskundliche Nachrichten 7, 42-65.



Abbildungs- und Materialverzeichnis:

Abb. 1-10 Digitalfotografie: Kim Nüesch 2024.



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