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Abb. 1  Drag Queens Milky Diamond (links) und Mona Gamie am lila. queer festival 2023.

«Ich finde es generell spannend, zu schauen, was einen Raum verbindet und wie man das brechen kann. Drag ist für mich deswegen so queer. Egal, um welche Normen es geht, man muss sie immer wieder erkennen und brechen.»

Interview Claudio Näf vom 24.04.2024


«Ich finde es wichtig, dass es exklusive Räume gibt. Ich möchte, dass wir in gewissen Situationen unter uns bleiben. Ich fühle mich am wohlsten in einem queeren Raum. Das ist schon ein Hinweis darauf, warum ich das mache. Weil im Rest der Öffentlichkeit ist es vielleicht nicht so möglich.»

Interview Tobias Urech vom 03.05.2024




Abb. 2  Grafische Darstellung der Codes für die Analyse


«Für mich [sind Drag und Queerness] untrennbar miteinander verbunden. Weil Drag auch eine lange Geschichte hat und Teil dieser Community ist. Es ist auch eng verbunden mit dieser Tradition, dass wir als queeren Menschen die bestehende Norm und die bestehende Ordnung herausfordern.»

Interview Tobias Urech vom 03.05.2024


Drag Artist Soya The Cow über einen queerfeindlichen Angriff: Instagram-Post


«Wir schaffen einen Safer Space für queere Menschen, um queere Kultur zu erleben. Weil das kriegt man sonst nirgendwo. Das wird dir nicht in der Schule beigebracht, das siehst du nicht so im Fernseher. Das lila ist deshalb auch wirklich da, um die Geschichte weiterzugeben.»

Interview Sara Boy vom 09.04.2024



Abb. 3 Blick ins Gelände des lila. queer festivals 2023 


«Diese queeren Menschen bekommen den ganzen Hass ab. Nicht die Organisation. Und deswegen ist es für uns mega wichtig, diese Menschen bei uns abholen zu können und ihnen einen Raum zu geben. Und ihnen zu sagen: ‹Hey, egal was diese Person jetzt zu dir gesagt hat, du bist bei uns so okay, wie du bist. Du musst dir keine Sorgen machen. Wir lieben dich so, wie du bist. Egal was draußen abgeht, hier kannst du so sein, wie du bist.›»

Interview  Sara Boy vom 09.04.2024




Abb. 4 Drag im Wahlkampf der Jungen SVP


Abb. 5: Wahlkampagne der Organisation Pink Cross


Drag Artist Bartli von Glitzer über Rassismus in der Dragwelt: Instagram-Post


«Nach der Begrüssung wird erklärt, was Drag Quinging ist, was ‹non-binär› heisst und weshalb Drag nicht von der Geschlechtsidentität der Künstler:innen abhängt. Nach dem Aufruf, dass sich alle Geschlechter mit Drag ausprobieren dürfen, werden Drag und Queerness nicht mehr gross thematisiert. Es wird Stadt-Land-Fluss gespielt. Die Kategorie ‹typisch queer› kommt erst in der finalen Runde vor. Ich nehme die Stimmung als subtil queer wahr, niemand ausser Host Justin Bellini Case und eine andere Person in Drag würde wohl von Aussenstehenden als queer gelesen werden.»
Feldnotiz vom 25.03.2024, D. J.




Abb. 6 Drag Queen LaMer am lila. queer festival 2023.

«Meine Drag-Persona ist einerseits inspiriert von dem, was mir auf dem Teller serviert wurde. Drag Race wurde zu dieser Zeit gerade populär. Ich hatte eine gewisse Idee von Drag, über soziale Medien, über mein aktivistisches Umfeld. Ich wollte aber auch sehr fest meinen eigenen Platz finden. Ich habe mich zum Beispiel nie gerne in Drag rasiert und lasse auch sehr gerne meine männliche Seite durchscheinen. Ich glaube, das kann man so als Normbruch bezeichnen.»

Interview Claudio Näf 24.04.2024


Abb. 7 Drag Queen Mona Gamie am lila. queer festival 2023.


«Die Kunstform an sich ist politisch, oder? Weil wenn du auftrittst – oder ich zumindest, [...] als schwuler cis Mann, der als Frau auftritt – allein schon das hat einen gewissen subversiven Charakter, wenn man mit den Geschlechterrollen spielt. Und wenn man diese durch das Imitieren ein wenig ins Wanken bringt.»
Interview Tobias Urech vom 03.05.2024


«Man kann schon versuchen, seine Identität nicht auf der Brust zu tragen. Aber dann geben einem die Leute halt selbst eine Identität. Ich glaube, darum vermische ich sehr bewusst privat und öffentlich. [...] Ich opfere lieber meine Sicherheit, meine Privatsphäre [...] ein Stück weit für queere Rechte. Oder um in den Menschen etwas zu bewegen.»

Interview Claudio Näf vom 24.04.2024




Abb. 8 Dekoration am lila. queer festival 2023.


«Aber es geht nicht nur um Sichtbarkeit, es geht auch um die Möglichkeit, mitzuwirken. Dass Ressourcen geschaffen werden, damit wir nicht die ganze Zeit damit beschäftigt sind, Fundraising zu betreiben, sondern die Veranstaltungen planen können.»

Interview Sara Boy vom 09.04.2024


«[Ich wünsche mir], dass wir diese Räume beleben können ohne in Angst zu sein, dass da Übergriffe passieren. Und grundsätzlich natürlich auch, dass sich queere Personen auf der Strasse bewegen können, ohne dass sie Angriffen ausgesetzt sind, was ein hehrer Wunsch ist, der vielleicht nicht in Erfüllung geht.»

Interview Tobias Urech vom 03.05.2024


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Daria Joos Queere Kultur im Spannungsfeld öffentlicher (Un)Sichtbarkeit

Abstract
Dank der gesellschaftlichen Liberalisierung hätten queere Menschen im 21. Jahrhundert so viele Möglichkeiten wie noch nie zuvor, heisst es oft. Trotzdem ist queeres Leben überall auf der Welt umkämpft. Das verdeutlichen auch transnational verbundene ‹Anti-Gender›-Bewegungen, die mit unterschiedlichen lokalen Strategien unter anderem queeres Leben angreifen. So bewegt sich auch queere Kultur stets im Spannungsfeld von (Un)Sichtbarkeit in unterschiedlichen Öffentlichkeiten und damit verbundenen Gefahren. Diese Arbeit beleuchtet, wie queere Kulturschaffende die öffentliche (Un)Sichtbarkeit von queerem Alltag erleben und verhandeln. Der Fokus liegt dabei auf der Kulturpraxis Drag, die in qualitativen Interviews und teilnehmender Beobachtung in der Stadt Zürich untersucht wird.  



Keywords
#QueereKulturen #AntiGender #multipleÖffentlichkeiten #Gegenöffentlichkeiten #(Un)Sichtbarkeiten


Zitiervorschlag:

Joos, Daria (2024): «Queere Kultur im Spannungsfeld öffentlicher (Un)Sichtbarkeit.» In: Chakkalakal, Silvy/Schmid, Milena/Andrea-Luca Bossard (Hg.): New Publics. Ästhetisch-kollaborative Vernetzungen zwischen Wissenschaften und Öffentlichkeiten. URL: https://new-publics.ch/joos

 

Queere Unterhaltung zwischen Öffentlichkeit, Popkultur und Wissenschaft Wer queere Kultur in Zürich erleben will, bekommt am lila. queer festival während drei Tagen die ganze Palette serviert. Seit 2017 stellt ein freiwilliges Team der Organisation Milchjugend den Anlass auf die Beine, der mit Musik, Tanz und Show die Welt auf den Kopf stellt, wie es auf der Website des Festivals heisst.

Queere Kulturformen, wie das lila. queer festival sie zelebriert, tragen laut dem Geschlechterforscher Martin Gössl (2022, 100) gleichgeschlechtliches Begehren und geschlechtliche Vielfalt in den öffentlichen Raum, «um gemeinsam – in queeren oder nonqueeren Zirkeln – als Idee gedacht zu werden». Sie müssen dabei immer in Bezug zu heteronormativen Machtstrukturen gesetzt werden, die bestätigt oder abgelehnt werden. Ist queere Kultur individuell und kollektiv erlebbar, können neue, queere Normalitäten gedacht werden (ebd., 66; 113).

Als immanenten Bestandteil von queerer Kultur bezeichnet Gössl (ebd., 114) auch die theoretische Auseinandersetzung mit queeren Fragestellungen. Somit lässt sich queere (Unterhaltungs-)Kultur im Nexus Wissenschaft – (Pop-)Kultur – Öffentlichkeit verorten. In meiner Forschungsarbeit wird dieses Feld als Beispiel für minorisierte Subjektpositionen im Spannungsfeld der öffentlichen (Un)Sichtbarkeit beleuchtet: Ich frage danach, wie queere Kulturschaffende die öffentliche (Un)Sichtbarkeit von queerem Alltag erleben und verhandeln. Der Fokus liegt auf der Kulturpraxis Drag, die gemäss Gössl (ebd., 102) «eine der essenziellsten Kunstformen einer queeren Gemeinschaft» ist. Wie sich zeigt, ist die Auseinandersetzung mit Drag darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Queerness selbst.
  
Zunächst werden Methodik, Zugänge zum Forschungsfeld und der kulturwissenschaftliche Kontext offengelegt. Danach wird das lila. queer festival als lokaler Schauplatz queerer Kultur vorgestellt. Der (Un)Sichtbarkeit der Kunstform Drag nähere ich mich anschliessend anhand teilnehmender Beobachtung, Social-Media-Inhalten und qualitativen Interviews. Den Abschluss der Arbeit bilden Impressionen aus einer öffentlichen Diskussion um queere Rechte. 



Arbeiten in einem fragilen FeldDer Zusammenhang von queerer (Un)Sichtbarkeit und Vulnerabilität deutete sich bereits zu Beginn meines Forschungsprozesses an. Meine Anfragen blieben zunächst lange unbeantwortet oder wurden aufgrund fehlender Kapazität abgewiesen. Das lag womöglich am Modus der Kontaktaufnahme (via E-Mail und Drittpersonen), der Personenauswahl (meist nebenberufliche Kunstschaffende) und meiner geringen Vernetztheit in der Drag-Szene trotz meiner eigenen queeren Identität. Eine gewisse Vorsicht gegenüber Aussenstehenden kann zudem mit den vermehrten Angriffen auf queeres Leben zusammenhängen. 
Als produktiver Zugang zum fragilen Feld der queeren (Un)Sichtbarkeit erwies sich die Organisation Milchjugend. Ich konnte hier leitfadengestützte qualitative Interviews führen, zuerst mit der Kommunikationsverantwortlichen Sara Boy, danach mit zwei Drag Künstlern, die, wie sich später herausstellte, über die Milchjugend zu Drag gefunden hatten.[1] Leider konnten keine weiblichen oder non-binären Drag Künstler:innen für Interviews gewonnen werden. Entsprechend fehlt in dieser Arbeit eine wichtige Perspektive besonders marginalisierter Gruppen. Die Auswertung der Daten erfolgte in einer qualitativen Inhaltsanalyse mit narrationsanalytischem Fokus (siehe Abb. 2)


Queerness, ‹Anti Gender› und multiple Öffentlichkeiten Das Forschungsvorhaben ist Teil der (queer-)feministischen Kritik an bürgerlichen Öffentlichkeitskonzepten. Theoretiker:innen wie Nancy Fraser und Michael Warner (Burkhart et. al. 2022) folgend gehe ich von multiplen Öffentlichkeiten aus, wobei sich insbesondere queere, mediale und ‹genderkritische› Öffentlichkeiten gegenüberstehen. Als queer-theoretische Perspektive lässt sich mit dem Soziologen Mike Laufenberg (2022, 248) ergänzen, dass queere Subjekte die scheinbare Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit anders wahrnehmen als heteronormativitätskonforme, nämlich «[...] immer auch als Grenzen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Offenbarung und Verbergung [...]», was mein empirisches Material bestätigt.

Ein widerständiges und kreatives Verständnis von Queerness als zukunftsgerichtete Praxis nach José Esteban Muñoz (2019 [2009], 1) zieht sich durch meine ganze Arbeit:

«Queerness is that thing that lets us feel that this world is not enough, that indeed something is missing. […] Queerness is essentially about the rejection of a here and now and an insistence on potentiality or concrete possibility for another world.»

Gerade die Interaktion mit den queeren Kulturschaffenden illustrierte, inwiefern diese neue Räume und Praktiken gestalten und wie deren queeres Selbstverständnis mit (Un)Sichtbarkeit, Gegenöffentlichkeiten, Politiken, Geschichte und Zukünften verbunden ist.
Queere Kreativität löst laut Laufenberg (ebd.) nicht selten Abwehrreaktionen der Mehrheitsgesellschaft aus, was auf einen weiteren Forschungskontext verweist: transnational miteinander verknüpfte ‹Anti Gender›-Bewegungen der neuen Rechten, wobei gerade im Europäischen Kontext queere und rassifizierte Menschen als Bedrohung für weisse Frauen inszeniert werden (Graff et al. 2019, 548). Die Kulturwissenschaftlerin Agnieszka Graff und die Soziologin Elżbieta Korolczuk (2021, 3-4) analysieren beispielsweise den Fokus der Rechten in osteuropäischen Ländern und Russland auf die Kategorie Gender in Bezug zum populistischen Diskurs, wonach sich so inszenierte unschuldige ‹Gender-Konservative› gegen korrupte, unmoralische Eliten verteidigen müssen. Auf diese Weise werden Rechtspopulist:innen und Ultra-Konservative unter einer Anti-Gender Agenda zusammengeführt (ebd., 7; 20). Rechter Widerstand gegen ‹die Gender-Ideologie› lässt sich auch in der Schweiz beobachten – auf nationaler Ebene etwa im Parteiprogramm der Schweizerischen Volkspartei[2]oder in den Parolen der rechtsextremen Bewegung Junge Tat[3], auf lokaler Ebene in den Hassverbrechen gegen queere Personen.  
Die zunehmenden Angriffe auf queeres Leben und nicht zuletzt auch auf Wissenschaftler:innen der Gender und Queer Studies (Näser-Lather et al. 2023) rahmen dieses Forschungsprojekt, das sich im konjunkturanalytischen Selbstverständnis zum Ziel setzt, durch die Kartierung des gesellschaftlichen Territoriums «Orte politischer Intervention ausfindig zu machen» (Ege 2019, 112).


Das lila. queer festival als queere Gegenöffentlichkeit  Ein queerer Mikrokosmos. So präsentiert sich das lila. queer festival in seinem Onlineauftritt. Ein Raum für vielfältige Kulturformen, Community und die freie Entfaltung queerer Identitäten. «Das Gestalten von eigenen queeren kulturellen Räumen und Kunstformen schafft Begegnungsorte unserer Subkultur», steht auf der Website[4]. Ein Gespräch mit Sara Boy (1999) von der Geschäftsstelle der Milchjugend, die ehrenamtlich im lila-Kommunikationsteam arbeitet, verdeutlicht zum einen die Formierung einer queeren Öffentlichkeit, zum anderen den Zusammenhang von Sichtbarkeit und Vulnerabilität.
Laut Boy dient das Festival explizit dazu, ausschliesslich queeren Menschen eine Bühne zu geben (Interview vom 09.04.2024[5]). Sie begründet die Exklusivität damit, dass es wenige Orte gebe, an denen queere Kultur im Zentrum stehe und es an Safer Spaces für queere Menschen fehle, was sie auch in Bezug zu staatlicher Kulturförderung setzt (siehe auch die Beiträge von Kim Nüesch, Julia Merz und Ajla Paratusic). Als wichtigen Aspekt hebt Boy die Vermittlung queerer Geschichte an sowohl queeres als auch nicht-queeres Publikum hervor, da auch hier gelte: «[...] man bekommt es nicht anders mit.» Vor dem Hintergrund der geringen Sicht- und Erlebbarkeit queerer Kultur, die Boy anspricht, kann der queere Mikrokosmos lila als Gegenöffentlichkeit in Warners Verständnis gelesen werden: als antagonistische Formation einer queeren Öffentlichkeit innerhalb hegemonialer Machtstrukturen (Lünenborg/Röttger-Rössler 2023, 15), als potenzielle Chance alternativer Normalitäten (Gössl 2021, 114-115).
Die explizit queere Veranstaltung ist somit im Spannungsfeld von (Un)Sichtbarkeit, die gleichzeitig emanzipatorisches Potenzial und Risiko mit sich bringt, zu verorten (vgl. Schade/Wenk 2011, 104; 118/119) (Siehe auch Milena Schmids Beitrag «Affective Publics am Schauspielhaus Zürich»). Die ‹Anti Gender›-Bewegungen verdeutlichen: Sichtbarkeit führt nicht automatisch zu Teilhabe und Anerkennung – im Gegenteil. Angesprochen auf die wachsende Sichtbarkeit queerer Kultur verweist Boy auf die damit verbundene Vulnerabilität der Akteur:innen: «[...] je mehr man queere Menschen sehen kann, desto mehr kann man sie auch attackieren. Es liegt eine ganz feine Linie zwischen ‹wie sichtbar wollen wir sein› und ‹wie sehr müssen wir uns dann schützen›.» Sie hält fest, dass zwar bestimmte Sicherheitsvorkehrungen vorgenommen werden, die Angebote für Jugendliche aber stets instand blieben. Zudem würden wohl eher queere Individuen mit Hass konfrontiert als die Milchjugend als Organisation. 


Drag Künstler:innen im Spannungsfeld queerer (Un)Sichtbarkeit  Mein kulturwissenschaftliches Interesse an Drag wurde besonders im Wahljahr 2023 geweckt. Nahm ich Drag zuvor bereits durch das Selbstverständnis der Künstler:innen als gesellschaftskritische Kunstform wahr, schien Drag plötzlich in der institutionellen Politik der Schweiz angekommen zu sein, wie ich verschiedenen Medienberichten[6] und Social-Media-Inhalten entnahm. (siehe Social-Media-Posts von @jsvp und @pinkcross_ch links).
Die Suche nach Veranstaltungen in Zürich, innerhalb derer sich Drag erleben und erforschen lässt, zeigte mir eine grosse Bandbreite an Anlässen auf: vom Drag Race Viewing in der Cranberry Bar, ein Open Mic für Drag Queens in der Daniel H. Bar bis zu Karaoke und Spielabenden in der Kweer Bar. Bereits das Durchscrollen der städtischen Veranstaltungskalender führte zur Auseinandersetzung mit dominierenden kulturellen Vorstellungen von Drag. Diese ist, wie die Forschung illustriert, massgeblich vom TV-Format Ru Paul’s Drag Race geprägt (Brennan/Gudelunas 2017; Gössl 2022: McCormack/Wignall 2022), wogegen davon abweichende Formate sowie weibliche, inter- und transgeschlechtliche, non-binäre und agender Künstler:innen sowie People of Color in den Hintergrund treten. (siehe Instagram-Post von @von_glitzer links).

Ende März besuchte ich das von Drag Künstler:in Justin Bellini Case moderierte Stadt-Land-Fluss-Turnier im Café Gleis. Der Spielabend, bei dem eine non-binäre Person, beinahe beiläufig in extravagantem Kostüm und Make-Up, das Publikum abstimmen liess, ob «Quallenjäger:in» als «Beruf mit Q» zählt, veranschaulicht: Drag muss weder laut noch exzentrisch sein, ist nicht auf schwule cis Männer reduzierbar und geht nicht zwingend mit Party oder Parteipolitik einher (Feldnotizen vom 25.03.2024).

Aber auch wenn Drag Queens nicht gerade von Wahlplakaten winken, sind sie politisch. Das machen die Drag Künstlern Tobias Urech (1994) alias Mona Gamie und Claudio Näf (1993) alias LaMer in ihren Interviews (24.04.2024 und 03.05.2024[7]) deutlich. Für beide hat Drag politischen Charakter. Zum einen, weil sie ihre Bühne nutzen, um gesellschaftspolitische Botschaften zu platzieren. Zum anderen beschreiben sie die Kunstform selbst als politisch, weil durch die Imitation von Geschlechterrollen Normen stetig anerkannt und gebrochen werden. Hierzu hält Gössl (2021, 101) fest: Die der Drag-Kunst innewohnende Provokation, die darin liegt, geschlechtliche Zuschreibungen zu überschreiten, sei nur die sichtbarste Ebene der Irritation. Die Provokation werde etwa durch Schönheitsideale und Verhaltensweisen vertieft. 


Hegemoniale Sichtbarkeiten, verschiedene Bilder Die von mir interviewten Künstler kontextualisierten queere (Un)Sichtbarkeit jeweils von sich aus als subjektives Phänomen. Beide betonten, als queere Personen und Kulturschaffende oft in queeren Räumen unterwegs zu sein, wodurch sie queeres Leben wohl als sichtbarer wahrnehmen würden als nicht-queere Personen. Spezifisch angesprochen auf die (Un)Sichtbarkeit von Drag wurde die Frage aufgeworfen, was denn als Drag gelte, und auf vielfältige Praktiken verwiesen, die über das Bild des schwulen Manns in Frauenkleidung hinausgehen.

Aber eben diese Drag Queens sind es, die gemäss Näfs Einschätzung ausserhalb der queeren Kulturszene sichtbar sind, – «vielleicht, weil ‹Drag Queen› so ein spezifischer Begriff wurde», – während andere Formen von Drag um Sichtbarkeit kämpfen müssen. Genau so wenig wie die Interviewten von der queeren Community als Einheit ausgingen, sprachen sie von Drag, was aufzeigt: Auch innerhalb der queeren Kulturszene bestehen Normen und Hierarchien. Eine wichtige Bemerkung, die auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Kunstform im Spannungsfeld der kommerzialisierten, heteronormativen Unterhaltung und Politiken radikaler Subkulturen von Bedeutung ist (vgl. McCormack/Wignall 2021).



(Un)Sichtbarkeit und (Un)Sicherheit: Drag als Magnet Die Auseinandersetzung mit der (Un)Sichtbarkeit von Drag führte zu Fragen der Vulnerabilität. In den Gesprächen zeichnet sich ab, wie verschiedene Öffentlichkeiten und unterschiedlich starke Sichtbarkeit das Sicherheitsgefühl prägen. «Eine Drag Queen fällt natürlich schon auf», sagte Urech. Drag Queen Mona Gamie entsprechend mehr als Künstler Tobias. Je stärker sichtbar queer eine Person sei, je stärker sie an der Geschlechterordnung rüttle, desto mehr Anfeindungen erlebe sie seiner Wahrnehmung nach. Ähnlich formulierte es Näf: «Drag ist halt ein Magnet. Ob man es mag oder nicht, es zieht die Aufmerksamkeit auf sich.» Beim Anblick von LaMer würden sich die Leute ein spezifisches Bild machen, das um einiges stigmatisierter sei als das Bild eines schwulen Mannes. In seinem Umgang mit solchen Fremdzuschreibungen vermischt Näf die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem, wie er erzählte – ein Begriffspaar, dessen Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit seit langem Thema feministischer Gesellschaftsanalysen ist (Burkhart et. al. 2022, 5). So spricht Näf, anders als andere Drag Künstler:innen, auf der Bühne häufig als schwuler Mann und nicht als Frau: «[...] ich opfere lieber meine Privatsphäre ein Stück weit für queere Rechte. Oder um in den Menschen etwas zu bewegen.» 
Am wohlsten fühlen sich die Drag Künstler an ihren Auftrittsorten. Näf bevorzugt Innenräume, geschlossene Gesellschaften oder Anlässe, die wegen LaMer besucht würden. Urech tritt am liebsten in queeren Räumen auf, wobei er sich vor Ort zurechtmachen und wieder abschminken kann. Beide stellen diesen sicheren Räumen die Öffentlichkeit gegenüber, wo sie sich exponiert und eher gefährdet fühlen.
Analog zu den in klassischen und Sozialen Medien thematisierten Angriffen auf queeres Leben sind es also auch in Näfs und Urechs Erfahrung Räume der Öffentlichkeit, wo Queerfeindlichkeit stattfindet oder antizipiert wird und sie ihr Verhalten aufgrund von Sicherheitsbedenken anpassen. Angesprochen auf die Aktionen der Jungen Tat sagte Näf: «Das bewegt viele Drag Artists. [...] Mein Sicherheitsgefühl in der Öffentlichkeit hat sich verändert. [Hervorh. D.J.]» Die Angriffe seien ihm immer nahegegangen, wobei ihn die Schockreaktionen gewisser Personen gleichzeitig auch verwundert hätten. Ähnlich äusserte sich auch Urech: Es sei bedenklich und erschreckend, man sei aber auch etwas abgestumpft, «weil man es ein bisschen kennt». Auf sein künstlerisches Schaffen hätten die Anfeindungen aber keinen Einfluss. Mona habe diese auf der Bühne auch thematisiert, unter anderem auch mit LaMer und einer weiteren Drag Queen zusammen. Mehr als um sich selbst sorgt Urech sich um Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche, welche ins Visier rechtsextremer Gruppierungen geraten könnten.


Mediale Öffentlichkeiten Häufig angesprochene Themen, die an dieser Stelle aber nur von mir angeschnitten werden können, sind Vermittlungsarbeit und mediale Öffentlichkeiten. Näf erzählte dazu etwa davon, in Medienberichten auf seine Queerness reduziert zu werden. Es sei sehr erschöpfend, Sinnbild zu sein «für etwas, das eigentlich unglaublich komplex und divers ist». Urech, der im Herbst 2023 auf einer Unterliste der SP für den Nationalrat kandidierte, sprach darüber, wie seine Kandidatur ohne Wahlkampf auf der Strasse, aber durch Interviews, viel Aufmerksamkeit generierte: «Da sieht man, wie eine mediale Öffentlichkeit funktioniert.» Über seine Nichtwahl ist er aber nicht enttäuscht, da er sich weniger als Parlamentarier sehe: «Ich schaffe lieber queere Gegenöffentlichkeiten.» An dieser Stelle nannte Urech also explizit das Konzept, nach welchem ich die von mir untersuchten Räume und Praktiken – mit dem lila. queer festival als konkretes Beispiel – auffasse. Queere Kultur schafft Gegenöffentlichkeiten, in denen alternative, widerständige Normalitäten gedacht werden können.


Sichtbarkeit, Sicherheit und Solidarisierung  Die Sichtbarkeit von queerem Alltagsleben und die damit verbundene Vulnerabilität – insbesondere vor dem Hintergrund globaler Angriffe – waren zentrale Themen des öffentlichen Podiumsgesprächs Drohender Backlash: Sind die Rechte queerer Menschen in Gefahr?, das Ende April im Rahmen des Pink Apple Festivals im Zürcher Kulturhaus Helferei stattfand. Die Teilnehmer:innen diskutierten insbesondere über Transfeindlichkeit. Giu Schmid, Leiter:in der Fachstelle für trans Menschen des Checkpoint Zürich betonte: «Mit Sichtbarkeit muss auch Schutz kommen. [...] Ohne Schutz ist Sichtbarkeit gefährlich» (Feldnotiz vom 29.04.2024). Ein Votum, dem applaudiert wurde. Schmid plädierte für Solidarität innerhalb der Community, was später eine ältere Feministin, wie sie sich selbst bezeichnete, aus dem Publikum aufgriff: «Wir müssen sichtbar sein und kämpfen.» (ebd.)
Die im Podium thematisierten Zusammenhänge von (Un)Sichtbarkeit, Vulnerabilität und Solidarität wirken auch im Kulturbereich, wie die Analyse der Interviews zeigte. An verschiedenen Stellen wurde dabei deutlich, dass Unterstützung nicht nur von queeren Menschen erwartet wird. So soll Sichtbarkeit gemäss Boy zu institutioneller Mitsprache und Ressourcenförderung führen.  

Ausgehend vom oben zitierten Muñoz’ Verständnis von Queerness habe ich die Drag Künstler zum Abschluss der Gespräche nach ihren Wünschen für die Zukunft befragt. Beide nannten sichere Räume für queere Kultur. Dabei betonte Näf jedoch, dass diese auf ein «viel grösseres System» angewiesen sei, auf eine gesamtschweizerische Entwicklung hin zur Diversität, auf engagierte Menschen und Widerhall von Institutionen. «Queere Leute müssen die Möglichkeit haben, sich outen zu können. Sie müssen die Sicherheit haben, an öffentliche Orte zu gehen. Es muss ein System vorhanden sein, das sie auch in die Kultur integriert.» Das Votum zeigt abschliessend: Trotz des emanzipatorischen Potenzials der Gegenöffentlichkeiten müssen Räume der Öffentlichkeit im weiteren Sinn – Strassen, Verkehr, staatliche Institutionen – für queere Menschen sicher zugänglich sein. Sie sollen sich darin bewegen dürfen, ohne mit Angriffen rechnen zu müssen. 



Endnoten: 

[1]Die Namen werden im Einverständnis der Interviewten nicht anonymisiert.

[2]Vgl. hierzu etwa: SVP: Parteigrpogramm, SVP: Nein zum Genderwahn. Aufgerufen am 13.06.2024.

[3]Vgl. hierzu etwa: TA: Neonazis stören Vorlesestunde von Dragqueens. Aufgerufen am 13.06.2024.

[4] lila. queer festival. Aufgerufen am 13.06.2024.

[5] Alle Zitate von Sara Boy stammen aus dem Interview vom 09.04.2024, weshalb sie im Folgenden nicht einzeln zitiert werden. Die mündlichen Aussagen wurden in Absprache mit der Interviewten sprachlich geglättet. 

[6]Vgl. hierzu etwa: Pomona: Aufrtitt von Dragqueen in Schulen, NZZ: Vorlesestunde braucht Polizeischutz, NZZ: Genfer SVP will Trans Veranstaltung für Kinder verbieten, Züritoday: Dragqueen-Eklat, Mannschaft: Dragqueens rufen zu Solidarität, NZZ: Als Dragqueen in den Nationalrat.  Aufgerufen am 13.06.2024.

[7]Alle Zitate von Claudio Näf und Tobias Urech stammen aus den jeweiligen Interviews vom 24.04.2024 und dem 03.05.2024, weshalb sie im Folgenden nicht einzeln zitiert werden. Die mündlichen Aussagen wurden in Absprache mit den Interviewten sprachlich geglättet.


Literatur:

Brennan, Niall/David Gudelunas (Hg.) (2017): RuPaul’s Drag Race and the Shifting Visibility of Drag Culture. Cham. Aufgerufen am 10.09.2024.

Burkart, Günter u. a. (Hg.) (2022): Privat – öffentlich – politisch: Gesellschaftstheorien in feministischer Perspektive. Wiesbaden. Aufgerufen am 10.09.2024.  

Ege, Moritz (2019): Cultural Studies als Konjunktur- und Konstellationsanalyse. Zur Einleitung. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 13/2, 101-104. Aufgerufen am 10.09.2024.  

Gössl, Martin J. (2021): Unbehaglich Queer: Das ernste Spiel mit der Anerkennung. Bielefeld. Aufgerufen am 10.09.2024.

Graff, Agnieszka u. a. (2019): Introduction: Gender and the Rise of the Global Right. In: Signs: Journal of Women in Culture and Society 44/3, 541-560. Aufgerufen am 10.09.2024.  

Graff, Agnieszka/Elżbieta Korolczuk (2021): Anti-Gender Politics in the Populist Moment. London. Aufgerufen am 10.09.2024.

Schade, Sigrid/Silke Wenk (2011): Studien zur visuellen Kultur: Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld. Bielefeld. Aufgerufen am 10.09.2024.  

Laufenberg, Mike (2022): Queere Theorien im Strukturwandel von Öffentlichkeit und Privatheit. In: Günter Burkhart u. a. (Hg.): Privat – öffentlich – politisch: Gesellschaftstheorien in feministischer Perspektive, 345-71. Aufgerufen am 10.09.2024.

Lünenborg, Margreth/Birgitt Röttger-Rössler (2023): Introduction. In: Dies. (Hg.): Affective Formation of Publics. London, 10-30. Aufgerufen am 10.09.2024.  

McCormack, Mark/Liam Wignall (2022): Drag Performers’ Perspectives on the Mainstreaming of British Drag: Towards a Sociology of Contemporary Drag. In: Sociology 56/1, 3-20. Aufgerufen am 10.09.2024.

Muñoz, José Esteban (2019): Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity. 10th Anniv. ed. New York.

Näser-Lather, Marion u. a. (2023): Counterstrategies against Antifeminism: Academia Meets Practice. In: Berliner Blätter 88, 117-133. Aufgerufen am 10.09.2024.




Abbildungs- und Materialverzeichnis:

Abb. 1 Digitalfotografie: David Rosenthal, dave.r.photos, 2023.

Abb. 2 Grafik: Daria Joos, 2024.

Abb. 3 Digitalfotografie: Michael Schmid, 2023.

Abb. 4 Screenshot: Junge SVP via X. Aufgerufen am 24.09.2024

Abb. 5 Screenshot: Pink Cross und Mona Gamie via Instagram. Aufgerufen am 24.09.2024

Abb. 6 Digitalfotografie: Rebecca Walti, 2023.

Abb. 7 Digitalfotografie: David Rosenthal, dave.r.photos, 2021.

Abb. 8 Digitalfotografie: Florin Schütz, 2023.  


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